Tagebuch (German Edition)
Luftangriffe auf deutsche Städte werden von Tag zu Tag stärker. Wir haben keine Nacht mehr Ruhe. Ich habe schwarze Ringe unter den Augen durch den Mangel an Schlaf.
Unser Essen ist miserabel. Frühstück mit trockenem Brot und Kaffee-Ersatz. Mittagessen schon seit vierzehn Tagen: Spinat oder Salat. Zwanzig Zentimeter lange Kartoffeln schmecken süß und faul. Wer abmagern will, logiere im Hinterhaus! Oben klagen sie Stein und Bein, wir finden es nicht so tragisch.
Alle Männer, die 1940 gekämpft haben oder mobilisiert waren, sind aufgerufen worden, um in Kriegsgefangenenlagern für den Führer zu arbeiten. Sicher eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall der Invasion.
Deine Anne
Samstag, 1. Mai 1943
Liebe Kitty!
Dussel hatte Geburtstag. Zuvor hat er getan, als ob er nichts davon wissen wollte, aber als Miep mit einer großen Einkaufstasche kam, die vor Päckchen überquoll, war er so aufgeregt wie ein kleines Kind. Seine Charlotte hat ihm Eier, Butter, Kekse, Limonade, Brot, Kognak, Kräuterkuchen, Blumen, Orangen, Schokolade, Bücher und Briefpapier geschickt. Er baute einen Geburtstagstisch auf und stellte ihn nicht weniger als drei Tage zur Schau, dieser alte Blödian!
Du musst nicht glauben, dass er Hunger leidet. Wir haben in seinem Schrank Brot, Käse, Marmelade und Eier gefunden. Es ist mehr als ein Skandal, dass er, den wir hier so liebevoll aufgenommen haben, nur um ihn vor dem Untergang zu retten, sich hinter unserem Rücken den Bauch voll stopft und uns nichts abgibt. Wir haben doch auch alles mit ihm geteilt! Noch schlimmer finden wir aber, dass er auch gegenüber Kleiman, Voskuijl und Bep so kleinlich ist, sie bekommen nichts von ihm. Die Orangen, die Kleiman so nötig für seinen kranken Magen braucht, findet Dussel für seinen eigenen Magen noch gesünder.
Heute Nacht habe ich viermal alle meine Besitztümer einpacken müssen, so laut haben sie draußen geballert. Heute habe ich ein Köfferchen gepackt und die notwendigsten Fluchtgegenstände hineingestopft. Aber Mutter sagte ganz richtig: »Wohin willst du denn flüchten?«
Ganz Holland wird gestraft, weil so viele Arbeiter streiken. Deshalb ist der Ausnahmezustand ausgerufen worden, und jeder bekommt eine Buttermarke weniger. So straft man ungezogene Kinder!
Heute Abend habe ich Mutter die Haare gewaschen. Das ist in diesen Zeiten gar nicht so einfach. Wir müssen uns mit klebriger grüner Seife behelfen, weil es kein Schampoo gibt, und außerdem kann Mans ihre Haare nicht richtig auskämmen, denn unser Familienkamm hat nicht mehr als zehn Zähne.
Deine Anne
Sonntag, 2. Mai 1943
Wenn ich manchmal darüber nachdenke, wie wir hier leben, komme ich meistens zu dem Schluss, dass wir es hier im Vergleich zu den anderen Juden, die sich nicht verstecken, wie im Paradies haben. Aber später, wenn wieder alles normal ist, werde ich mich doch wundern, wie wir, die wir es zu Hause sehr ordentlich hatten, so, ja, man kann wohl sagen, heruntergekommen sind. Heruntergekommen, was die Manieren betrifft. Wir haben zum Beispiel schon seit unserer Ankunft eine Wachstuchdecke auf dem Tisch, die durch den häufigen Gebrauch nicht mehr zu den saubersten gehört. Ich versuche zwar oft, sie noch etwas herzurichten, aber mit einem Abwaschlappen, der mehr Loch ist als Lappen und ebenfalls vor dem Verstecken – vor langer Zeit also – mal neu war, kann man auch mit noch so viel Schrubben mit dem Tisch keinen Staat mehr machen. Van Daans schlafen schon den ganzen Winter auf einem Flanelltuch, das man hier nicht waschen kann, weil das Seifenpulver, das man auf Marken bekommt, viel zu knapp und außerdem viel zu schlecht ist. Vater läuft mit einer ausgefransten Hose herum, und auch seine Krawatte zeigt Verschleiß. Mamas Korsett ist heute aus Altersschwäche zusammengebrochen und nicht mehr zu reparieren, während Margot mit einem um zwei Nummern zu kleinen Büstenhalter herumläuft. Mutter und Margot sind den ganzen Winter mit zusammen drei Hemden ausgekommen, und die meinen sind so klein, dass sie mir noch nicht mal bis zum Bauch reichen. Das sind zwar alles Dinge, über die man hinwegsehen kann, aber trotzdem überlege ich manchmal mit Schrecken: Wie können wir, die wir von meiner Unterhose bis zu Vaters Rasierpinsel nur verschlissenes Zeug haben, später wieder zu unserem Vorkriegsstand zurückkommen?
Sonntag, 2. Mai 1943
Die Hinterhausansichten über den Krieg
Herr van Daan: Der ehrenwerte Herr hat nach unser aller Meinung viel Durchblick in der
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