Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Massen.
»Ich bin ein bürgerlicher Schriftsteller.« Das stimmt. Ich wurde in eine bürgerliche Familie hineingeboren, genoss eine bürgerliche Bildung. Aber das europäische Bürgertum hat der Menschheit sehr viel gegeben. Geht diese Schicht unter, will ich mit ihr untergehen.
Die Neujahrsausgaben der französischen Blätter zitieren an prominenter Stelle jenen Abschnitt meines »Flugblatts«, in dem ich auf die Rolle Frankreichs in Europa eingehe. Ich stehe zu jeder Zeile, jetzt und in der Zukunft. Die Rolle der Franzosen ist nicht der Imperialismus, sondern die geistige Führung. Ihre Aufgabe ist keine quantitative, sondern eine qualitative.
Vielleicht wird man einmal auch in Ungarn begreifen, was ich mit dem »Flugblatt«, für das mich die mit totalitären Ideen liebäugelnden Pfeilkreuzler fast erschlagen hätten, sagen wollte. Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass im zukünftigen Europa auch Ungarn nur mit einem hohen Qualitätsanspruch wird leben und überleben können; wir haben nicht die Möglichkeit, mittelmäßig zu sein. Aber was für Bauchschmerzen das den hiesigen Interessengemeinschaften bereitet hat, die so gierig vom Mittelmaß profitierten!
Neujahrstag, an dem niemand ein »neues Leben« beginnen will; man ist schon froh, sein altes fortsetzen zu können.
Was wäre, wenn ich die Schankerlaubnis beantragte und tatsächlich eine Weinschenke eröffnete mit dem Gasthausschild: Weinschenke zum Verrat der Intellektuellen? …
Eines ist gewiss: Es wäre die einzig angemessene Antwort auf all das, was dieses Land seinen Geistesmenschen angetan hat.
Vergessen wir nie, dass eine entfesselte Bürokratie den toten Tolstoi folgendermaßen etikettiert seiner Familie zurückschickte: Adresse: Familie Tolstoi. Verpackung: Kiste. Inhalt: Eine Leiche.
Mark Aurel, edler, großer, treuer Freund. Du »menschlicher Kaiser«, wie Herder dich nannte, du bist meine größte Stütze in dieser unheimlichen Zeit! Die Welt ist heute genauso im Wandel begriffen wie zu deiner Zeit: Auch heute geht eine Lebensform zugrunde, die wesentlich auf Kultur gründete. Das kann man nur aus menschlichem Blickwinkel mit ansehen und ertragen, so wie du es mit angesehen und ertragen hast: geduldig, verständnisvoll, zurückgezogen ins Innerste der Seele, den Körper und das Schicksal den Mächten der Welt überlassend, die Seele und die wahren Absichten für sich bewahrend.
Maugham schreibt in seiner Autobiografie , er sehne sich zuweilen genauso nach dem Tod wie in seiner Jugend nach den Armen seiner Geliebten. Ich glaube, dieses Bekenntnis ist aufrichtig. Je mehr man über das Leben weiß, je mehr man gelebt hat, umso beängstigender kommt es einem vor. Im innersten Bewusstsein aller Lebewesen wohnt die Angst. Für den Menschen ist die Welt ein Ort besonders großer Angst, noch viel beängstigender, als sie für die Tiere sein mag, deren Bewusstsein ohnehin mit dem wilden Zauber der ständigen Gefahr lebt. Leben bedeutet, sich der wimmernden Angst eines zwischen den hoffnungslosen Polarsternen von Geburt und Tod sinnlos zappelnden Lebewesens bewusst zu werden. Was bleibt einem anderes übrig? Es gibt keinen Ausweg. Wer lebt, muss fortwährend Angst haben. Er kann diese Angst durch sein Verhalten überspielen; an seiner inneren Beklemmung wird eine solche Protzerei nichts ändern.
Wer sich vor der Angst in den Tod flüchtet, muss nicht unbedingt ein Feigling sein. (Und selbst wenn er es wäre! …) Rast machen, im Durcheinander der schrecklichen und verwirrenden Missverständnisse zur Ruhe kommen: Das, nichts anderes, ist der Tod. Immer öfter sehne ich mich nach ihm.
Aber es ist immer wieder beruhigend zu wissen, dass ich nicht einen einzigen Schritt auf ihn zugehen muss; er ist da, ganz nah, er weiß, wann es an der Zeit ist, seine Hand auf meine Schulter zu legen. Dieser eine Freund bleibt einem immer treu.
Basic English … eine Methode, der Welt eine gemeinsame Sprache zu geben, ein achthundert Wörter umfassendes gemeinsames Gestammel, damit sich die Menschen beim Turmbau von Babel miteinander verständigen können!
Ein Europäer glaubt nicht an diese Methode. Und auch an alle anderen nicht, die das europäische Babel abbauen wollen. Dieser tragische Sprachunterschied ist der Sinn unseres Lebens. Ja, auch unser Verhängnis. Ohne eine gemeinsame Sprache gibt es kein gemeinsames Europa. Das letzte Band, das die europäische Kultur zu einer Art geistigen Einheit zusammengefasst hatte, war das Latein. Dieses Band ist
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