Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
gerissen, zerrissen durch nationalen Ehrgeiz. Ohne eine gemeinsame Sprache gibt es kein Europa, es gibt nur Nationen, die sich in vierzig Sprachen hassen.
    Am Vormittag gibt es einen langen Luftalarm, zudem habe ich eine Nikotinvergiftung – beides zusammen ist überaus unangenehm. Man kann alles ertragen, was einem das Schicksal auferlegt, aber man sollte die schweren Prüfungen der Geschichte nicht noch aus eigenem Antrieb – etwa durch eine Nikotinvergiftung – verschlimmern.
    Den Menschen noch geduldiger zuhören, auch den Gegnern, allen, die anders denken, als dir richtig erscheint. Auch jenen geduldig zuhören, die – im Affekt oder aus Unwissenheit – gegen ihre eigenen Lebensinteressen reden, handeln, leben. Erstens, weil nicht sicher ist, ob sie nicht doch recht haben. Zweitens: Finde dich damit ab, dass Menschen auch anders glücklich und unglücklich werden wollen, als dir richtig erscheint. Die Menschen haben auch das Recht, zugrunde zu gehen. Hilf ihnen und dir selbst, wenn du kannst, aber sprich ihnen dieses Recht nicht ab.
    Wird es uns gelingen, aus Ungarn ein Schweden oder ein Dänemark zu machen, oder wird es zu einer Art Mazedonien werden? Haben wir die Zeit und die Menschen, um es zu einem Schweden oder einem Dänemark werden zu lassen? Das ist die Frage.
    Die Verbreitung des Nazitums in Ungarn verhinderten lange Zeit rund dreihundert Menschen, unter ihnen einige alte Aristokraten. Aber diese Garnitur eignet sich nicht dazu, auch die Balkanisierung Ungarns zu verhindern. Dazu wäre nur ein selbstbewusstes, gebildetes Bürgertum in der Lage, also ein Menschentyp, der bei uns völlig fehlt. Die Antiselektion der letzten fünfundzwanzig Jahre hat alle Versuche, eine demokratische Mittelklasse heranzuziehen, bewusst vereitelt – alle, die sich für eine demokratische Erziehung aussprachen, galten als verdächtig, standen in jüdischem Sold oder waren heimliche Bolschewiki. Genau diese Schicht fehlt uns heute.
    Während des Alarms arbeite ich an meinem Roman, erfülle mein literarisches Tagespensum – und versuche es getreulich und demütig zu tun, also nicht übermütig und auch nicht theatralisch wie jemand, der die Gefahr missachtet und sich »bis zum letzten Augenblick über seine Arbeit beugt«, nein. Natürlich ist auch mir bange, fürchte auch ich mich vor den Folgen und mag die dreisten Helden nicht, die Archimedes spielen, deren Kreise von möglichen Bomben gestört werden. Es geht einfach darum, dass Warnungen vor einem Luftangriff im Radio – die diesmal zum Glück noch keine Bombardierung bedeuteten – auch zwei Stunden dauern können, und wenn ich diese zwei Stunden am Vormittag nicht arbeite, ist mein Arbeitspensum an diesem Tag verloren. Und so viel Zeit bleibt mir vielleicht gar nicht mehr: Ich möchte diesen Roman, den ich – im Gegensatz zur Möwe letztes Jahr um diese Zeit – mit echter Lust begonnen habe, zu Ende führen. Das ist der einzige Grund für mein Verhalten. Alles andere ist Eitelkeit oder Hysterie.
    Am Vormittag Abrechnung bei meinem Verleger. Bücher sind jetzt gesuchte Artikel – nicht nur als Lektüre und Erlebnis, sondern auch als einfache Ware, die man in Ermangelung anderer Waren kauft –, und man überweist mir für meine Arbeit im vergangenen Jahr eine anständige Summe, von der ich ein Jahr lang leben könnte. Von dieser Summe gehört mir kein Cent; sie nehmen mir in Form von Steuern alles weg, besonders jetzt, da sie den Einfall hatten, sechs Jahre rückwirkend eine »Kriegsprofitsteuer« zu erheben. Ich habe zwar keinen »Kriegsprofit« gemacht und keinen Cent verdient, den mir nicht das Publikum aus freien Stücken für meine Arbeit bezahlt hätte; aber das spielt keine Rolle. Es zählt auch nicht, dass ich alle meine Steuern der letzten sechs Jahre schon einmal pünktlich bezahlt habe. Entscheidend ist, dass der Staat mir mein ganzes Gehalt wegnimmt und ich für den Krankheitsfall und fürs Alter nicht vorsorgen kann – er bestraft mich dafür, dass ich in den letzten Jahren fleißig war, gearbeitet, meine Einkünfte zu einhundert Prozent angegeben und meine Steuern bezahlt habe. Das ist die Wirklichkeit. Das alles gibt mir zu denken, besonders jetzt, da die Bolschewiki dreihundert Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt stehen.
    Ich muss also von dem leben, was ich irgendwie von meinen Einkünften abzwacken kann; achtzig Prozent meines Gesamteinkommens geht in Steuern und allgemeine Abgaben, und das, was übrig bleibt, ist mit unzähligen

Weitere Kostenlose Bücher