Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Autobiografie von Miklós Barabás : eine Oase in jener Wüste, die bis heute das Los eines ungarischen Schriftstellers und Künstlers ist. Ein gnädiges Schicksal trägt ihn über achtzig Jahre auf Händen; nach Jahren des Elends in der Kindheit wendet sich die Welt seinem Talent zu, und er bekommt die Möglichkeit, in Ruhe, Würde und Anstand sein Werk, die große ungarische Porträtgalerie des neunzehnten Jahrhunderts, zu erschaffen. Er lebte freilich im letzten Jahrhundert, als sich Künstler und Publikum noch gegenseitig achteten. »Ich habe mich nie mit Politik beschäftigt«, schreibt er bescheiden nach 1848. Heute würde sich die Politik seiner schon noch annehmen!
Barabás zitiert Miklós Wesselényis Ausspruch: »Leiden lehrte man mich, nicht mich zu fürchten.«
Cherbourg ist gefallen . Die Russen haben in Finnland und bei Witebsk ihre große Sommeroffensive gestartet.
Carlyles Studie über Walter Scott. Ich machte mich misstrauisch an die Lektüre, ich mag seinen Schwulst, seine Zwischenrufe, seine pathetische und bombastische Sprechweise nicht. Aber die kleine Studie kommt gleich im einleitenden Abschnitt zum Wesentlichen: dass Größe im Allgemeinen nicht in unserem Handeln, unserem Werk, unserem Verhalten, unseren Äußerungen, sondern in etwas anderem liegt in dem hinter den Worten und Taten verborgenen stummen Gehalt. Vielleicht in der Inbrunst, mit der man seinem Dämon antwortet. Und Größe kann nur jemand haben, der einen Dämon hat.
Walter Scott zum Beispiel hatte keinen. Aber er war gesund, und Gesundheit ist vielleicht noch mehr als Größe. Und dennoch brauchen die Menschen eher jene unglücklichen, mit sich ringenden Geister, die zu einem ungeheuren Preis irgendeine evangelische Botschaft übermitteln, wie Dostojewski, Goethe oder Shakespeare. Letzterer überbringt selbst dann noch eine Heilsbotschaft, wenn er mit seinem gesunden Menschenverstand nichts anderes will, als die Kassen des Globe Theatre zu füllen. Und zu diesem Zweck Hamlet schreibt …
Die Walter Scotts wollen keine himmlische, evangelische Botschaft überbringen; den Dämon kennen sie nicht. Sie sind gesund, prächtig, reich. Sie bilden im schrecklichen Zweikampf von Mensch und Welt jene besänftigenden, üppigen, vor vegetativer Fülle wuchernden Inseln, in deren Revieren keine Dämonen lauern und auch keine Götter.
Samstag um Mitternacht wurden die Häuser des Budapester Gettos abgesperrt. In diesen schrecklichen Massenunterkünften leben über zweihunderttausend Menschen und warten darauf, in Viehwaggons in die polnischen Lager deportiert zu werden. Besuche sind nicht mehr gestattet.
Dieses Massenunglück kam nicht unerwartet; und doch hat niemand wirklich damit gerechnet, dass es passieren könnte. Seine Ausmaße, seine menschliche Bedeutung lassen sich im Moment noch gar nicht begreifen. Tag für Tag erlebe ich eines der fürchterlichsten Kapitel der ungarischen Geschichte. Und ich hänge nicht mehr am Leben. In mir herrscht eine tiefe Gleichgültigkeit und Entschlossenheit, alles zu akzeptieren, was mir das Schicksal noch bringt.
Macaulays Büchlein über Milton. Der Geschichtsschreiber, für den ein Dichter oder eine Dichtung genauso ein Produkt der menschlichen Geschichte ist wie eine politische Partei oder eine Schlacht. Und vielleicht hat er damit sogar recht: Dichter und Dichtungen sind geschichtliche Ereignisse im Leben der Völker. Eine geheimnisvolle geschichtliche Erfahrung; die Völker erschaudern zuweilen ob ihrer Bedeutung und erschlagen den Dichter wie einen Krieger. Aber »ein Mohawk spürt das Skalpiermesser kaum, während er sein Todeslied herausschreit«.
Der blinde, verbannte, verfolgte Milton in seiner stillen, traurigen Erhabenheit ist als Mensch genauso groß wie als Dichter. Er erduldete alles und sang bis zum letzten Moment die seltsame Melodie, die nur die seine war.
All dieser Schrecken, dieses Grauen wird einmal ein Ende haben, und für viele – denn viele werden auch das Grauen überleben – bricht dann »die Zeit des angstfreien Lebens und der Freiheit« an. Aber auch diese Zeit wird schrecklich sein, eine Zeit der Rache, des Blutvergießens und der ungerechten Forderungen nach Rechenschaft. Und doch wird es so richtig sein. »Für die Übel, die eine vor Kurzem erworbene Freiheit erzeugt, gibt es nur ein Heilmittel: Freiheit«, schreibt Macaulay. »Wenn ein Gefangener seine Zelle zum ersten Mal verlässt, so vermag er das Tageslicht kaum zu ertragen, unterscheidet keine Farbe,
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