Tagebücher 01 - Literat und Europäer
sicherzugehen, falls das Ganze zu langweilig und sinnlos wird.
Sich jetzt nach Budapest hineinzubegeben ist so, als liefe man in ein brennendes Haus, um dem Rauch und den Flammen zu entreißen, was noch zu retten ist.
Ausgiebiger halbtägiger Juliregen. Untätig, mit einer Art Heimweh starre ich in den Regen; wie jemand, der schon allzu gern sein Menschenschicksal ablegen und sich den Gesetzen der Natur überlassen möchte.
Es ist in der Tat sehr spannend, was Sainte-Beuve in den Montagsplaudereien über die Sitten Mademoiselle Scudérys mitteilt. Und über die Tugend Madame Maintenons . Und über die literarischen Ambitionen Mademoiselles, der Schwester des Königs … Ich lese diese feinsinnigen, gewissenhaften und edelmütigen Apologien, diese Rechtfertigungen vermeintlicher Tändeleien längst verstorbener Damen zwischen zwei Bombenangriffen, und die Lektüre kommt mir nicht unzeitgemäß vor. Mademoiselle Scudéry lebte neunzig Jahre, und von ihren langen Romanen lebt keine einzige Zeile mehr; auch Berlin ist nicht mehr; und morgen werde ich auch nicht mehr sein. Aber der Geist wird bleiben, solange Menschen leben. Ich lese diese Plaudereien ohne Gewissensbisse.
Was wird uns die Zukunft bringen? … Die Wende? … Aber die Zukunft ist doch schon da! Kann sie etwas anderes sein als die Fortsetzung der Gegenwart, kann dieser Gegenwart eine andere Zukunft entspringen als die, deren Saat diese Zeit in sich trägt und heranreifen lässt? Ist es vorstellbar, dass uns irgendein militärisches oder gesellschaftliches Ereignis eine andere Zukunft beschert als die, die aus der Verbindung einer Schreckensherrschaft revoltierender Instinkte mit der Rache der gequälten Massen hervorgehen wird? Genau aus dieser Gegenwart wird die Zukunft entspringen. An die Stelle der Judenfrage wird die Klassenfrage oder eine Deutschenfrage treten – und alles wird genauso sein, wie es unter solchen Voraussetzungen sein kann.
Auch im Tierreich findet man Vornehmheit. Es gibt auch einen tierischen Adel – und das ist fast schon ein Trost in einer Zeit, in der überall die Herde herrscht und gedeiht.
Diese Goldamsel kehrt beharrlich in den Garten zurück. Ich beobachte sie stundenlang. Sie ist vornehm und von Welt. Sieht aus wie ein alter Hofrat in seinem schwarz-gelben Staat am Hof Franz’ I .
Lerne zu lächeln. Entspanne dich … Kein verkrampftes »Benehmen« nach außen! Und ein Lächeln nach innen! Ein ehrliches Lächeln, frei von jedem Gekränktsein. Hättest du den Menschen nicht helfen können? … Es war auch nicht deine Aufgabe. Du warst ein Mensch und lebtest unter Menschen, also hattest du keine Möglichkeit, irgendjemandem wirklich zu helfen.
Jetzt ist es auch egal: Irgendetwas ist unwiederbringlich vorbei. Noch einen Tag? Noch zehn Jahre? Irgendwie, irgendwo, gerade noch geduldet? … Wer wäre so töricht, jetzt noch Pläne zu schmieden? Oder gekränkt zu sein? Oder Wiedergutmachung zu fordern? Wieso Wiedergutmachung? Wofür? Sind nicht alle, die heute leben, die Opfer wie die Urteilsvollstrecker, gleichermaßen schuldig? Nimm den Tag, wie er kommt, mit Sonnenschein oder mit Regen. Und lächle, aufrichtig, von innen. Alles andere ist Sache der Menschen und der Götter.
Sainte-Beuve hat recht: Das »große Jahrhundert«, das in Wirklichkeit eine Mischung aus dem siebzehnten und dem achtzehnten Jahrhundert ist, brachte nicht nur große Frauen, sondern auch große Leidenschaften hervor. Diese Scudérys, Lespinasses , Sévignés hatten nicht nur den Mut zu denken, sondern auch zu fühlen. Ich habe unter Girls gelebt.
Ich fürchte mich vor meinem Gewissen noch immer mehr als vor der Welt.
Ich ertrage Hitze und Kälte noch immer schlechter als den Weltkrieg.
Die Menschen sagen nicht nur das, was sie sagen, sie sagen auch sich selbst : Diese beharrliche, einer fixen Idee gleichende zweite Aussage, die ihnen merklich wichtiger ist als alles, was sie sagen, schlägt im Stil durch.
Denke ich an das »literarische Leben« Ungarns in den letzten zehn, fünfzehn Jahren zurück, packt mich ein Ekel, der es mir wahrhaftig leicht macht, diesen lädierten Füller im nächsten oder übernächsten Moment ohne Bedauern wegzuwerfen. Das, was Csortos , der Schauspieler, die »Schreckensherrschaft der Choristen« nannte, war in der Literatur das schamlose Gekeife der Halbtalentierten, der elenden Schreiberlinge; es ist genauso erniedrigend, als hätte man in einer Abteilung der Nervenheilanstalt ein literarisches Café eingerichtet
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