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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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erkennt kein Gesicht. Will man ihn aber heilen, so darf man ihn nicht in sein Gefängnis zurückführen, sondern muss ihn an die Sonnenstrahlen gewöhnen. Der Glanz, den Wahrheit und Freiheit ausstrahlen, mag Völker, die in dem Hause der Knechtschaft halb blind geworden sind, auf den ersten Augenblick blenden und betäuben. Lasst sie aber nur in das helle Licht blicken, und sie werden es bald ertragen. Im Laufe weniger Jahre lernen die Menschen denken. Die äußerste Heftigkeit der Meinungen lässt nach … Die zerstreuten Elemente der Wahrheit hören auf, sich zu bekämpfen, und beginnen zusammenzuschmelzen …« Und das ist viel wert; auch das, was es uns unweigerlich kosten wird.
    Nein, nichts kann durch Rache geregelt werden. Aber sie ist in sich ganz und vollkommen, wie ein Sturm, eine Flut. Es gibt keine menschliche Handlung, die ihrer ganz entbehrte.
    Und dennoch, ein Schriftsteller sollte nie nach Rache rufen. Er sollte die Menschen verstehen und alles ertragen, was der menschlichen Natur entspringt.
    Fast noch unsympathischer als die großen Räuber sind die kleinen Feiglinge, die inmitten dieser Feuersbrunst mit falschem Lächeln und feigen Bedenken Silberlöffel retten wollen.
    Nachts heftiger Bombenangriff . Und in der Stadt, die von den Bomben aufgerissen und umgewühlt wird, hoffen viele Tausend Menschen, dass eine der Brandbomben ihrem Leben ein Ende setzt.
    Ich weiß nicht, ob ich die Kraft finden werde, die beiden Fragmente – Die Schwester und Die Beleidigten – in der kommenden kurzen Zeit noch abzuschließen. (Kurze Zeit, denn ich spüre, dass die Kraft, die mich bisher aufrecht gehalten hat – die Kraft des inneren Widerstands –, nachzulassen, zu versiegen beginnt.)
    Ein Moment im Garten . Ein Moment zwischen zwei Unendlichkeiten; die Sonne scheint; die Rosen verblühen; zwischen den Fluten zweier Meere des Grauens fühle ich mich restlos glücklich.
    Sie blinzeln und manövrieren. Wie ich sie verachte!
    Die Schuld, die sie auf sich laden, ist kollektiv, also wird auch die Sühne kollektiv sein. Ist ihnen auch das nicht bewusst?
    Die Erde zum Beben bringender – im wahrsten Sinn des Wortes erdbebender – Luftangriff. Ich sitze im Garten unter einem Baum. Amerikanische Maschinen fliegen tief am Himmel.
    Ich lese Sainte-Beuves Causeries du lundi .
    Der Luftdruck hebt das Häuschen, in dem ich jetzt lebe, wie die gereizte Handbewegung eine Spielzeugdose.
    Der Versuch – der erste in meinem Leben –, einen Detektivroman zu lesen. Ich nehme mir gleich zwei Romane vor, Werke der Herren Wallace und Leblanc: Beide sind sterbenslangweilig. Auf Seite zehn schlafe ich ein.
    Da ist Dante schon spannender; und Vörösmarty auch.
    Ein dicker politischer Journalist eilt mir entgegen, hält mich an, sagt misstrauisch: »Du siehst gut aus! …«
    Der bisher schwerste Luftangriff beginnt am dritten Juli morgens um halb zehn – und ist vermutlich doch nur das Vorspiel zu noch heftigeren Angriffen. Der Himmel gleicht nun wirklich einer Eisbahn, die von Schlittschuhkufen mit verspielten Linien vollgekratzt wurde, oder einem Spiegel, auf den betrunkene Hände mit einem Diamanten krumme Linien gezogen haben. Ab und zu blitzen in großer Höhe ein paar Dutzend schmetterlingsgroße Flugzeuge mit silbernen Flügeln im Sonnenschein auf. Zwei Stunden lang dröhnen die Flugzeuge. Manches stürzt unweit von hier in die Donau. Ich sitze im Zimmer mit Blick auf den Garten, von dort verfolge ich durch das offene Fenster den Angriff, der – wie ich am Abend erfahre – einen Großteil des Villenviertels am Stadtwäldchen und viele Häuser in der Neuen Leopoldstadt zerstört hat.
    Am Morgen begebe ich mich bei einem schwülen Schirokko in die bombardierte Stadt. Im Tunnel ereilt mich die Meldung eines neuerlichen Luftalarms. Im Horváth-Garten, im Vérmező-Park kampieren Tausende Menschen: Männer in Hemdsärmeln, Mütter mit Bündeln und Kindern. Das ist schon Panik. Bei Luftgefahr rennen sie in Richtung des Tunnels und des als sicher geltenden Felsenbunkers in der Burg. Unterwegs passiert der Zug die Ziegelfabrik von Budakalász. Hier, in den Scheunen, die sonst zum Trocknen der Ziegel dienen, warten siebentausend Juden aus dem Budapester Umland auf die Deportation. Am Bahndamm stehen Soldaten mit Maschinenpistolen
    Das muss man alles gesehen haben ; Gehörtes, Erzähltes gibt die Wirklichkeit nicht wieder. Ich gehe zum Arzt, dann zu meiner Wohnung. Ich besorge mir abermals eine Portion Morphin, um ganz

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