Tagebücher 01 - Literat und Europäer
und zwänge einen, dort zu leben … Diese »völkischen« Schriftsteller, die sich in ihrer Eitelkeit und Kränkung wie alternde Schauspielerinnen gerierten, diese »urbanen« Schriftsteller, die ihren Mangel an Talent und Charakter durch lexikalische Bildung ersetzen wollten, und überall fehlt die Großzügigkeit eines echten Talents … oh, was für ein Graus! Und ich habe darin gelebt. Herr, ich kann verstehen, dass du das Ganze verabscheut und verurteilt hast und mit ihm die Gesellschaft, der es entsprang, deren Teil es war.
Individuelle Grausamkeit erzeugt Schuldgefühle. Institutionelle Grausamkeit erzeugt Situationen, die infolge ihrer eigenen Trägheit zu neuen Grausamkeiten verleiten.
Shaws Mensch und Übermensch . Wie veraltet, wie verstaubt, wie abgestanden ist doch diese muntere Revoluzzerei; wie abgedroschen dieses flexible Gesellschaftsbild; und wie unschriftstellerisch, also unverantwortlich dieses aufgeregte Bürgerschrecksgehabe. Die Zeit rächt sich furchtbar an solch großspurigen Revolutionären: Shaw will schockieren, aber er veranlasst den Leser nur zum Gähnen. Auf Seite hundert, als die Handlung im Sinne des Autors »am spannendsten« sein soll, schließe ich das Buch zutiefst gelangweilt und stelle es ins Regal zurück.
Ein Tag in Losonc . Vollkommener Frieden. Dann schon lieber als Opfer in Budapest bleiben.
Thomas De Quinceys Bekenntnis , Opium gegessen zu haben.
Er war am Ende über zweiundsiebzig Jahre alt, als er starb; dreißig Jahre lang hatte er das Laudanum genommen, an manchen Tagen in den letzten Jahren täglich siebentausend Tropfen. Was nützen alle moralischen und medizinischen Argumente angesichts der Wirklichkeit? Nicht viel. Vielleicht ist auch das Opium eine Lösung; neben dem Einnehmen seiner täglichen siebentausend Tropfen verrichtete De Quincey auch ordentlich seine Aufgaben.
Von der Frau ist jetzt natürlich keine Rede; wie überhaupt von nichts mehr die Rede ist; aber die Frau ist irgendwo noch da. Jene bestimmte »Frau«, die in den Erzählungen und Romanen der Jahrhundertwende unter solch quälenden Sorgen von einem Mann herbeigesehnt oder verstoßen wurde; was macht sie jetzt? … Sie lebt wohl im Krieg, auf ihre Weise, gebärt, flüchtet vor den Bomben, steht vor den Lebensmittelläden Schlange und stürzt sich auch in Abenteuer; aber sie tritt nicht in Erscheinung … Eines Tages wird sie sich rächen; die Gewehre werden verstummen, und die Frau erscheint in der Literatur und im Leben, in voller Rüstung, unversöhnlich.
Ich habe vom Optiker meine erste Brille bekommen. Eine Dioptrie; und auf den Buchseiten glänzen die winzigen Buchstaben wieder wie einst in meiner Jugendzeit; nur interessieren sie mich nicht mehr so sehr.
Man fragt mich, ob ich nicht meine, dass ich das, was ist und was noch kommen mag, überleben müsse, da mich in Zukunft noch eine »Aufgabe« erwarte?
Ich erwidere guten Gewissens und entschieden, dass ich nicht an diese »Aufgabe« glaube. Ich habe in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren alles getan, um nach bestem Wissen und Gewissen zu dienen, aber sämtliche Extremisten von links bis rechts waren sofort zur Stelle, um mir klarzumachen, dass dieses Land meiner und meinesgleichen nicht bedarf. So steht es geschrieben, wortwörtlich, Hunderte und Aberhunderte Male. Ich bin nicht gekränkt; ich beherzige nur den liebenswürdigen Rat … Was wollte ich? Ich wollte mich bilden, um andere bilden zu können; ich wollte Qualität. Aber nichts wird in diesem Land mehr gefürchtet als Qualität und echte Kultur, das wahre Heldentum. Ich will also nicht mehr »dienen«. Ich werde nur noch leben, so lange und so gut es geht, und inmitten der Genies und Propheten ein »Handwerker des Schreibens« bleiben, falls das noch möglich ist. Ein anderes Ziel habe ich nicht mehr.
Die Russen stehen vor Lemberg .
Ich lese Erasmus’ Laus stultitiae . Nicht eine seiner Zeilen ist in den vergangenen vierhundert Jahren verblasst; das Buch ist heute genauso glänzend und spritzig wie damals, als es den Dummköpfen und Wichtigtuern der Reformation einen Nasenstüber versetzt.
Ich werde nie wieder ein Haus betreten, in dem sich geladene Gäste miteinander »unterhalten« sollen; ich werde keine Einladungen mehr annehmen, weder von Christen noch von Juden. Ich bin nicht mehr bereit, mit irgendjemandem Streitgespräche zu führen. Mir reicht’s.
Das Buch von Kapitän Slocum beschreibt, wie er in den Neunzigerjahren die Welt umsegelt hat.
Drei Jahre
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