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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Julisonnenschein.
    Morgens um acht schlendere ich in Buda die Hauptstraße entlang; in einer Espressobar trinke ich einen Kaffee, lese die verlogenen und schauerlichen Nachrichten einer Zeitung; in der leeren Wohnung nehme ich ein Bad, ziehe auf gut Glück ein Buch aus dem Regal, lese bis Mittag … Oh, diese Bücher! Fünftausend Bücher, fünftausend Erinnerungen, Kämpfe, Konflikte, Versöhnung, Lust, Entspannung – was geht mich das alles noch an? Die Wohnung? Die Arbeit, mit der und für die ich sechzehn Jahre hier gelebt habe? Mittags suche ich müßig eine Kirche auf, bleibe in einer Ecke stehen. Wohin soll ich gehen? Auf der Elisabethbrücke in einer überfüllten Straßenbahn, unter Menschen mit gelben Sternen; wir dümpeln in der Mitte der Brücke, als die Luftschutzsirene ertönt; ich begebe mich auf gut Glück unter die Brücke; von dort werde ich verscheucht; im Keller eines Mietshauses treffe ich auf meinen Arzt, der auf die Liste der Auswanderer nach Schweden kommen möchte.
    Nach dem Angriff in der Tiefe des leeren alten Kaffeehauses, fast allein im großen Raum, einer Loge. Kosztolányi, Karinthy, Surányi saßen einst hier, wann nur? Gestern. Wo sind sie jetzt? Nirgends. Und die ganze ungarische Literatur, wo ist sie? Ein paar Revolverblätter in den Straßen, das Gestammel einiger Dilettanten in den Schaufenstern der Buchhandlungen. Meine Freunde im Ausland oder in Internierungslagern, in Viehwaggons, die sie in die Gaskammern fahren, sofern sie Juden sind, in tiefer, heimlicher, erschrockener, beschämter Einsamkeit, sofern sie Christen sind. Das ganze Land im Vorhof der Hölle. Stundenlang sitze ich da, in einer Loge des alten Lokals, und tue, als läse ich, und auf einmal wird mir klar: So kann man nicht leben! Damit kann man sich nicht abfinden; wie meine Lebensbedingungen in Zukunft auch sein mögen, ich muss mit ganzer Kraft und ganzem Willen arbeiten; auch für die Schublade, lange, jahrelang; und dennoch arbeiten, nicht der Arbeit, nicht des Landes, nicht des paralysierten Europäers wegen, nur arbeiten, so wie ein Ertrinkender auch dann noch seine Züge macht, wenn sein Blick schon verschwommen ist, die Arme erschlaffen und das Ufer außer Sichtweite gerät …
    Wie war das doch? Ich erwachte morgens um sieben, als jemand (es war das Zimmermädchen) leise durchs Zimmer ging und ein Glas Orangen- und Zitronensaft auf das Tischchen neben meinem Bett stellte, dazu die Morgenblätter. Ich erwachte und trank das herbe, erfrischende Gebräu (Vitamine!) in einem Zug aus, blätterte in den Zeitungen, nahm die tags zuvor begonnene Lektüre zur Hand und las bis neun. Dann wurde auf einem rollenden Tablett das Frühstück hereingeschoben: Tee, Butter, ein weiches Ei, Honig. Um zehn stand ich auf, arbeitete bis elf. Zu diesem Zeitpunkt wartete vor dem Haus bereits mein Wagen, den der Garagenmeister am frühen Morgen abgeholt und mit sorgfältig verschlossenen Türen vor dem Tor abgestellt hatte. Ich zog eine weiße Hose und ein weißes Trikot an, ging, den Schläger in der Hand, hinaus, setzte mich in den Wagen, fuhr auf die Insel, spielte eine Stunde Tennis, duschte, schwamm und ließ mich im Schwimmbad massieren. Auf dem Weg nach Hause hielt ich vor einem Café oder Espresso, in dem es einen guten Mokka gab, und kippte, die Ellbogen auf die Theke gestützt, eine Tasse höllisch starken Mokka hinunter. Das Mittagessen war leicht und schmackhaft; wenn die Köchin ihre Sache nicht gut genug machte, ersetzten wir sie nach einer Weile durch eine andere. Nach dem Mittagessen schlief ich, anschließend arbeitete ich bis fünf; dann folgte ein Spaziergang in Hűvösvölgy oder auf dem Svábhegy (auch dorthin fuhr ich mit dem Wagen und ärgerte mich, wenn er ab und zu nicht perfekt funktionierte – er muss durch einen anderen ersetzt werden!), nach dem Spaziergang nach Hause und umziehen, da am Abend Gäste erwartet wurden oder ein Besuch zu machen war. Wenn möglich, kehrte ich bis Mitternacht nach Hause zurück. Im Bett las ich noch eine Stunde. Und vor dem Einschlafen stellte ich gähnend fest, dass das Abendessen schlecht, die Unterhaltung langweilig, das Niveau des literarischen Lebens gesunken und das Leben alles in allem wirklich unerträglich war.
    Wer weiß, vielleicht war es das wirklich.
    Guter, alter Montaigne, begleite mich noch einmal ins Dorf hinaus. Rede über die Erziehung, den Tod und darüber, dass der heilige Augustinus einen Mann gekannt hat, der im Takt furzen konnte; und über den

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