Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Sinn der Freundschaft und der Erziehung; egal worüber, nur rede, zitiere bis zum Überdruss deinen Lukrez und deinen Plutarch. Schlauer, alter Montaigne in deinem Turmzimmer, umgeben von Pest und Bürgerkrieg, wahnsinnigen Hugenotten und Papisten, rede!
Allabendliche Spaziergänge in Tahi. Die wunderbare Anmut der Landschaft. Ich hatte einst an der Seine, in La Roche-Guyon, eine gewisse Villa Rosabeille besichtigt, die ich mieten wollte, dann aber für zu teuer befand, denn man verlangte fünfhundert Francs im Jahr … Aus dem Fenster jener Villa tat sich ein ähnlich anmutiger Ausblick mit Fluss, Abhang, Wiese und Dorf vor mir auf. Nun habe ich alles gefunden, was mir seinerzeit entgangen ist; nicht genau dort, wo ich es damals gesucht habe, und nicht damals, sondern zwanzig Jahre später. Und nur für kurze Zeit. Aber ich habe es gefunden.
Mittagessen mit E . in einem Budaer Restaurant. Er gehört zu den wenigen Menschen, mit denen ich noch Kontakt habe; uns verbinden nicht Freundschaft und Vertraulichkeit, so nah sind wir uns nie gekommen; das Band zwischen uns ist vielmehr das Vertrauen, das ich zu seinem Geschmack und seiner Bildung habe. Man merkt ihm die Hygiene der Bildung an, und mehr kann man sich heute von einem Menschen nicht erhoffen. Er ist in seiner sehr edlen und bescheidenen Art auch mutig; mutiger als die schwadronierenden Propheten und nach Alibis suchenden Maulhelden.
Wer verstummt, soll sein Verstummen nicht mit Trompeten ankündigen. Man muss vor aller Welt verstummen, ohne auch nur den leisesten Laut von sich zu geben.
Montaigne behauptet, es genüge nicht, mit dem Wissen zusammenzuleben, man müsse es auch ehelichen. Aber das Zusammenleben stellt den Menschen stets auf eine harte Probe; mit dem Wissen zusammenzuleben bedeutet, auf das erstaunliche Abenteuer unserer Instinkte zu verzichten. Und das tut weh.
In Babits’ Ödipus -Übersetzung spürt man manchmal diesen Mehrwert, den ich immer begieriger suche, sowohl in den Menschen als auch im Schreiben: als könne nur noch ein Wort von geradezu evangelischer Kraft die Welt erretten. Die Evangelisten haben nicht immer diese evangelische Kraft; nur in den Zeilen des Paulus spüre ich diesen Mehrwert immer und manchmal in den Schriften des Johannes. Wenn sich Babits und Sophokles zusammentun, um von Ödipus’ Tragödie zu künden, lodert uns aus den Tiefen der Zeit und des Werkes dieses seltsame Licht der Unterwelt entgegen.
Seit anderthalb Jahren zum ersten Mal wieder im Dampfbad. Ein zeitloser Ort, nichts hat sich verändert. Auch heute entspannen sich im heißen Wasser Menschen, die Lumpen, Weise oder Selbstmordkandidaten sein könnten. Und ich glaube, das sind sie auch, nach wie vor; sie sind das Stammpublikum solch zeitloser Örtlichkeiten, jenseits aller zeitlichen Wertmaßstäbe: die Lumpen, die Weisen und die Selbstmordkandidaten.
Larbaud beklagt sich:
»Que ferais-je, grand Dieu, d’une vie ennuyeuse
Ou de tant de périls je suis environné,
D’une vie en tout temps superbe et malheureuse
Si mon cœur à soi même était abandonné?«,
und dieser Seufzer mag vielen von uns, denen die Zeit aus welchen Gründen auch immer das Messer an die Brust gesetzt hat, frivol erscheinen. Und doch ist er nicht unbegründet oder unzeitgemäß. Denke doch nur an den sogenannten tiefen Frieden zurück! An deine Sorgen! Deine Sehnsüchte! Deine Ängste! Deinen falschen Ehrgeiz und deine unstillbaren Leidenschaften! Die menschliche Existenz war auch damals kein Paradies auf Erden. Que ferais-je, grand Dieu, d’une vie ennuyeuse? … Aber diese Gefahr droht im Moment ja nicht.
»Zog ihn ein Tod seltsamer Art schleunig hinab« , spricht Theseus – und der Leser erschaudert, denn er spürt, dass jetzt nicht nur ein Dichter etwas Ahnungsvolles, Schauerliches oder Schönes sagt, sondern Sophokles und Babits eine bestimmte Information verkünden: Dieser Tod, der Tod des Ödipus, war wahrhaftig »seltsam«. Das Wort besitzt hier noch seine ganze Authentizität.
Auf diesen evangelischen Mehrwert warte ich, nach ihm halte ich Ausschau; doch stattdessen sehe ich überall nur Politiker, Staatsmänner, Soldaten, schön oder klug vortragende und argumentierende Schriftsteller von künstlerischer Kraft; aber das genügt nicht. Einen solchen Mehrwert hatte noch das Wort Dostojewskis. Bei uns sprachen Pázmány, Vörösmarty, Babits mit solcher Authentizität.
Abends ein kindlich-schauerlicher Vollmond, blutrot, riesengroß und rund wie ein … aber
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