Tagebücher 01 - Literat und Europäer
trieb er sich mit seinem Boot »Spray« auf den Meeren herum, überquerte die Magellanstraße, den Atlantischen und den Stillen Ozean. Neben der seemännischen Leistung ist natürlich das menschliche Leistungsvermögen faszinierend. Monatelang mitten im Stillen Ozean am Boden eines Bootes zu kauern, geräucherten Fisch zu knabbern und nach Regenwasser Ausschau zu halten, das setzt nicht nur Navigationsfähigkeit, sondern auch eine Art Geisteskrankheit voraus. Diese Slocums und Alain Gerbaults sind alle schizophren oder zumindest schizoid; bestes Beispiel dafür ist Slocum, der bekundet hat, dass ihm auf hoher See regelmäßig einer der Steuermänner von Kolumbus’ Hilfsschiff »Pinta« im Traum erschienen ist und sein Schiff gelenkt hat.
Der Wahnsinn ist eine große Macht. Er treibt einen Menschen rund um die Welt; mit schlafwandlerischer Sicherheit durchquert er Mahlströme und Monsune, während der Steuermann der »Pinta« sein Boot lenkt! Nicht einmal nüchtern und auf festem Boden wandelt man sicherer.
In Budapest. Luftalarm. Er ereilt mich im Restaurant, man scheucht uns in den Keller des Hauses. Im Luftschutzkeller stehen Stuhlreihen hintereinander wie in einem Vorstadtkino. Das Publikum aus dem Haus und von der Straße nimmt auf den Stühlen Platz und wartet still und geduldig auf den Beginn der Vorstellung.
Die Natur ist auch nicht besser; aber sie ist wenigstens konsequent.
Diese zweistündigen kleinen Schiffsfahrten auf der verminten Donau zwischen Budapest und Leányfalu … das ist alles, was von der Welt geblieben ist.
Aber auch das ist ein Geschenk, ich nehme es dankbar an. Der Sommer ist mild, die Landschaft ahnt nichts von dem Sturm, der in der Welt tobt. Tahi ist voller Obstduft. Die Schiffer sind freundliche Draufgänger, der letzte bunte Menschentyp dieser mechanisierten Menschheit: lauter Turnschuh tragende Schmuggler, die mit der unnachahmlichen Verschmitztheit der Friedenszeit zwei Finger zum Gruß an den Mützenschirm legen … Wasser ist etwas Ewiges, und die Menschen, die auf dem Wasser leben, bewahren in sich etwas vom tiefsten Sinn des Lebens, dem Spiel.
Denn es ist gut möglich, dass der wahre Sinn des menschlichen Lebens das Spiel ist. Erde, Wasser, Himmel wird es auch ohne uns geben; wir erscheinen für Sekunden auf der Bühne und spielen. Manchmal ist es ein schreckliches Spiel; stets ein bißchen lächerlich. Aber über allem der Schauder, das große Pathos, wenn der Mensch Gott, der Kunst oder dem Tod begegnet.
Ich bin nicht einmal mehr böse. Ich sehne mich nicht nach Rache. Verzeihen will ich allerdings auch nicht. Aber eine Nachprüfung wird es nicht geben .
Ich hasse, also bin ich.
Beim Hassen breche ich in Gelächter aus und zucke die Achseln: Also bin ich ein Mensch.
Mit gespenstischer Kraft erneuern sich Worte und kehren wieder. Heute las ich in einer Zeitung: »Lemberg ist noch unser.«
Ich denke an Paris . Die heiße Lava des Krieges umschwappt den Fuß des Mont Sainte-Geneviève. Ich sehe Straßenecken, Gesichter vor mir. Wenn ich wieder in die Straßen von Paris zurückkehre, wird die Jugend vorbei sein.
Aber diese Steine, die Steine von Paris, wahren die Erinnerung an die Jugend von Millionen und Abermillionen Menschen, so auch an meine. Mich verbindet etwas mit ihnen wie mit allem, was von der Jugend berührt wurde.
Während der Fahrt auf dem kleinen Schiff lese ich Valéry Larbauds Jaune , Bleu, Blanc . Dieses Buch entstand – nach dem letzten Krieg – im selben Jahr, in dem ich in Paris eintraf. Es erzählt von dem, was uns damals allen am Herzen lag: Wie könnte man nach Europa zurückkehren?
Wer wird wohl das neue Gelb-blau-weiß -Buch schreiben? Das diplomatische Bekenntnis einer ganzen Generation, dass wir – wir alle und überall – im Zweiten Weltkrieg unsere gemeinsame Heimat verloren haben?
Einer der Rosenbüsche im Garten bringt jetzt – Ende Juli – plötzlich mit wilder und resoluter Kraft Blüten hervor. Alle anderen Rosenstöcke sind schon verblüht; es ist die Zeit der Levkojen und Dahlien. Aber dieser Nachzügler schreit auf einmal auf und weist fünf blutrote Blüten vor, wie Corpora delicti einer späten Leidenschaft.
Tage in Budapest zwischen Luftalarm und Bombenangriffen, bei vierzig Grad Hitze, in völliger Ziellosigkeit; Begegnungen mit Menschen, denen längst klar ist, dass dieser Lebensstil aufgehört hat, Freunde zu vereinen und Feinde zu trennen; und alles flimmert wie eine Fata Morgana im hellblauen
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