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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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die Metaphern dieses Mondes sind schon alle gesagt worden. Man wird wählerisch. Kein Vollmond, und sei er noch so voll, verpflichtet mich, bei seinem Erscheinen eine Metapher von mir zu geben.
    Er erscheint jedenfalls über einer Welt, die sich in tollwütiger Weise selbst vernichtet; er erscheint genauso gleichgültig, wie ein rotbemützter Henker das Schafott besteigt, auf dem bereits das Opfer kniet. (Nun bin ich doch nicht ohne Metapher davongekommen.)
    Die Substanz des Ungarn ist erschlafft; neben den Herren und Dienern sind der Deutsche und der Jude erstarkt; die zähe, feminine Kraft des Slawentums strömt zu uns und unter uns; und die Substanz, die auf diese Herausforderung antworten müsste, ist nicht widerstandsfähig. Man kann nicht alles mit dem Scheitern von György Dózsa erklären. Feudalherren und mächtige Regionalherrscher, Großgrundbesitz, Lehnswesen und Leibeigenschaft hat es auch anderswo gegeben, aber überall gelang es dem Volk, diese Mächte zu überwinden: mit Gewalt oder durch den zähen Willen von Jahrhunderten. Es gibt keine Ausreden: Jedes Volk ist für sein Schicksal verantwortlich.
    Aber die hundertfünfzig Jahre währende Türkenherrschaft ist doch eine Entschuldigung. Vielleicht brach damals das Rückgrat der Nation. Und irgendwann nach achtundvierzig … Darum geht es in Szekfűs unvollendeter Artikelreihe »Wir haben uns irgendwo verirrt«.
    Ich liege am Morgen nackt auf einer Hügelkuppe, unter Obstbäumen im glänzenden Augustsonnenschein, und lese Montaigne. Ich erlebe diesen seligen Sommermorgen in einem der letzten, schrecklichsten Augenblicke des Krieges, und doch vermag ich mich deshalb nicht zu schämen.
    Begegnungen auf der Straße, im Keller eines fremden Mietshauses während eines Luftalarms, Wiedersehen, die abenteuerlicher als Fernostreisen und zuweilen beängstigender als Erlebnisse auf einem Schlachtfeld sind … das Leben hat sich in der Tat in ein Schlachtfeld verwandelt, im wahrsten Sinn des Wortes. Schicksale, die in ihrer Außergewöhnlichkeit schon übermenschlich sind und in einen Schundroman gehörten. Schicksale, die sich nicht einmal große Dichter so ausdenken könnten. Der Mensch hat seinen natürlichen Rahmen verlassen. Nun wandelt er Schritt für Schritt an der Grenze zwischen Schicksal und Unwirklichkeit; aber diese Unwirklichkeit ist alltägliche Wirklichkeit.
    Begegnungen mit Menschen, die mit jedem verschreckten und geheuchelten Wort ein Alibi suchen. Sie leben in ständiger Alarmbereitschaft, sprechen im Flüsterton, berufen sich augenzwinkernd auf abwesende Personen, die ihre Worte schon bestätigen werden, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Das alles ist schon mehr als niederträchtig, es ist dumm und traurig.
    Es kann passieren, dass um vier Uhr nachmittags plötzlich der Strom ausfällt; zur gleichen Zeit hört man ferne Bombendetonationen, Kanonenfeuer, obwohl die Sirenen kein Notsignal gegeben haben. Die Phänomene verselbstständigen sich, halten sich nicht an die Hausordnung. Was ist geschehen? Niemand weiß es. Vielleicht werden wir es auch nie erfahren. Ist das noch der Krieg? Oder schon etwas anderes? Alles verschwimmt, alles ist möglich.
    Das »Safe-Öffnungs-Komitee« fordert mich in einem Einschreibebrief auf, in der Bank soundso zu erscheinen, da mein gemeinsam mit X . gemietetes Schließfach geöffnet werde. Ich bewahre im Safe zwar nur mein Testament auf, dennoch erstaunt mich die Aufforderung. Die Russen an der Grenze, die Engländer und Amerikaner über uns, doch der Verwaltungsapparat sucht noch immer ernst und beflissen nach versteckten Taschenuhren in den Safes von Budapest.
    Bei sechsunddreißig Grad Hitze in Budapest. Ich irre in fremder Sache umher, in überfüllten Straßenbahnen und in der Gewissheit, dass das ganz und gar aussichtslos, vielleicht sogar überflüssig ist: Den Menschen ist nicht zu helfen. Dennoch schleppe ich mich weiter, durch die verreckten und betäubten, ausgebombten Straßen Budapests, im klebrigen Schmutz dieser Hundstage. Wie viel traurige Niedertracht! Und andererseits wie viel zähe menschliche Kraft, fast schon Größe! Hier setzt sich jemand für ein Kind ein und nimmt Gefahren und, was fast schon mehr ist, Unbequemlichkeiten auf sich, dort telefoniert jemand, um einem Internierten zu helfen, nimmt anstelle einer unbequemen persönlichen Begegnung das gefährlichere (da leichter zu überwachende) Telefonat auf sich. Dann wiederum staune ich über die Klugheit, ungebrochene Souveränität und

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