Tagebücher 01 - Literat und Europäer
anarchisch, maßlos, übertrieben und absolut ist; wer geliebt wird, hat zu Recht Angst um seine Individualität, um das, was ihn von anderen unterscheidet, was ihn ausmacht, um seine Haut also und um mehr. Der reife Mensch versöhnt sich in der Zärtlichkeit.
Warum wundern wir uns, dass die Menschen so empfindlich sind? Dass sie jeden Unterton heraushören, der nicht würdigend, anerkennend, der womöglich sogar kritisch ist? Die Tiere – jedenfalls die domestizierten Tiere – sind genauso empfindlich. Mein Hund verzieht sich beim kleinsten Tadel beleidigt für einen halben Tag, frisst nicht, liegt nur knurrend da. Pferde sind noch viel empfindlicher. Jedes Lebewesen braucht Liebe und Anerkennung – und verweigert natürlich jede vertraglich beglaubigte Gegenleistung.
Goethe zeichnet die Breiten- und Längengrade in Trient und Bozen mit rührender, kleinlich-besorgter Pedanterie auf. Die gleiche Aufmerksamkeit widmet er dem Klima, der mineralischen Beschaffenheit des Gesteins, der Qualität der Ernährung der Menschen. In solchen Momenten ist er nicht der Größte – Fausts Interesse gilt anderen Dingen –, aber am menschlichsten. In solchen Momenten verspüren wir jenes magische Vertrauen zu seiner Person, das eines der schönsten Geschenke des Menschen ist.
Tage, vielleicht Wochen, in denen etwas langsam zerbricht: in Deutschland, in ganz Europa, auch bei uns. Was zerbricht? Ein Machtsystem? Eine Lebensart? Der Krieg ist nur eine Folge von alledem. Auch während des Kanonenfeuers und der Bombenangriffe herrscht große Stille in den Seelen; die Stille des Grauens und der Erwartung. Ungeheure Kräfte brechen langsam und unerbittlich das Rückgrat von irgendetwas … man hört das Knacken der Wirbel.
Es gab im Leben die Literatur, die Musik, die Kunst, die Liebe und den Tod. Darin lag sein Sinn. Alles andere war Tagesnachricht oder Geschichte, also etwas Nebensächliches. Es lohnte sich nicht, sich damit zu befassen, selbst wenn man daran zugrunde ging.
In Budapest zu leben ist jetzt ungeheuer »interessant« – das Wort ist natürlich frivol, diese Erfahrung ist anders und mehr als »interessant«! – und erzeugt eine Spannung, wie ich sie noch nie, in keiner Lebenssituation je erlebt habe. Die Fragen und reflexartigen Antworten der Menschen, ihre Ängste und Hoffnungen. In der spannungsgeladenen Atmosphäre des Augenblicks brechen die Charaktere auf, zeigen sich unverhüllt. Ich habe in diesen Tagen mehr über die menschliche Natur erfahren, sie besser kennengelernt als je zuvor in meinem Leben.
Während man sich fürchtet, hofft man auch, während man hofft, fürchtet man sich zugleich. Das Gewohnte, Vertraute erscheint, da es sich jetzt wandelt und verschwindet, plötzlich wieder begehrenswert, selbst wenn es schrecklich war. Es ist, als zöge man aus einer vertrauten Hölle in einen leeren Raum um, der gewiss kein Himmel ist, ja, vielleicht sogar eine neue Hölle sein könnte …
Seit einigen Tagen grüßen sie sich anders, drücken sich anders die Hand; sie verabschieden sich und versichern den anderen dabei ihrer Freundschaft – sind sie Scheusale? Nein, sie sind Menschen.
In Stendhals Buch über die Liebe sind wirklich nur die sorgfältig zusammengetragenen Beispiele lehrreich. Das Beispiel Nello della Pietras oder des in den Wäldern von Sesia nur seiner Rache lebenden Grafen oder der Hofdame Franz’ I., die ihren infolge einer Krankheit stumm gewordenen treulosen Liebhaber eines Tages auffordert: »Sprich!« – und der Mann beginnt zu sprechen. In diesen Beispielen leuchtet die krankhafte, irrationale Kraft, die Heilige wie Liebende bewegt und zu Wundertaten animiert, mit heller Flamme. Der Rest ist zahnlose Rechthaberei.
Alles wandelt sich, Städte verschwinden, Menschen sterben oder ändern – aus Eigeninteresse, aus einer Laune heraus oder nur infolge ihrer Drüsenfunktion – ihre Meinung. So ist das Leben.
Aber jenseits alles Wandelbaren gibt es etwas Dauerhaftes. Die Ordnung von Leben und Tod. Die Jahreszeiten. Die Erkenntnis, dass der menschliche Geist immer wieder, selbst unter den hoffnungslosesten Bedingungen, etwas Neues hervorzubringen vermag. Ob in Zeiten der Liebe, ob in Zeiten der Pest; die immer wiederkehrenden Phänomene der Natur. Die überraschende Feststellung, dass dem Menschen am Ende immer etwas einfällt. Und die Gewissheit, dass sich sein Charakter nie verändern wird. Mehr auf das achthaben, was im Leben beständig ist.
Im Leben braucht man Geduld. Für das
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