Tagebücher 01 - Literat und Europäer
können. Ich wurde zum Beispiel ziemlich streng erzogen und erzog mich später auch selbst streng. Ich hätte mir vor sechs Monaten nicht vorstellen können, mit einem fremden Namen zu unterschreiben, fremde Anmeldeformulare auszufüllen, für andere heimlich Lebensmittelkarten zu kaufen. Heute tue ich das alles, ohne mit der Wimper zu zucken.
Was geschieht in Ungarn während dieser Tage? Die Mitglieder der Führungsschicht: Offiziere, Staatsbeamte, Angehörige der Gentry und der Aristokratie verlängern ihr Leben um einige Wochen. Sie nehmen dafür in Kauf, dass die Alliierten die Eingeweide des Landes herausquetschen. Die Parolen lauten: »Alles für Siebenbürgen!« und: »Lasst uns ehrenvoll sterben!« In Wahrheit werden wir, die anderen, sterben, während sie fieberhaft packen und sich in Richtung Österreich und wenn möglich der Schweiz davonmachen.
Das Schicksal Siebenbürgens ist schmerzlich. Aber auch die Finnen hängen an Petsamo und Karelien, auch den Bulgaren ist Mazedonien wichtig, und auch den Rumänen tut es um Moldawien und Bessarabien leid: Dennoch tragen sie den Realitäten Rechnung, haben zu einem grausam hohen Preis mit den Deutschen – mit denen sie ohnehin nur der Zwang und das Interesse zusammengeführt hatte – gebrochen und denken nicht länger in territorialen Kategorien, sondern versuchen, die Fundamente des nationalen Überlebens zu retten. Arad gehört schon »uns«, »unsere Truppen haben es gestern erobert«; aber das Schicksal Budapests ist ungewiss. Und das ist das Maß.
Nein, hier prolongiert eine Klasse; aus Feigheit, Eigeninteresse, Korruption. Über »Bündnistreue« verlören sie kein Wort mehr, müssten sie nur mit den Engländern, nicht mit den Russen verhandeln. Eine andere gerüchtweise verbreitete Botschaft lautet: »Lasst uns im Osten durchhalten, bis die Engländer das Donaubecken erreichen.« Auch das ist nur eine Parole, der Wunschtraum einer Klasse, nichts anderes. Im Moment ist nur eines gewiss: Budapest und die Städte gehen zugrunde, und das Überleben der ganzen Nation wäre gefährdet, wenn die Russen nicht auf der Grundlage eines Abkommens, sondern aufgrund des Faustrechts, wie Sieger auf einem Kriegsschauplatz, erschienen … aber einige Tausend Menschen wollen sich nicht der Möglichkeit eines deutschen Transitvisums berauben, wollen das gute Verhältnis zu den Deutschen nicht trüben, weil sie dann nirgendwohin mehr fliehen könnten. Und deshalb geht alles vor die Hunde. (Und bis dahin findet die Führung allzu sichere Luftschutzkeller im Felsenbunker der Burg …)
Und noch etwas: Die Finnen, die Bulgaren, die Rumänen hegten nie ehrliche Sympathien für die Deutschen, aber der ungarische Prolet und eine bestimmte Schicht des ungarischen Adels sympathisierten sehr wohl aus ganzem Herzen mit ihnen. Und begingen die gleichen Schandtaten wie sie. Daher der Chorgesang »Lasst uns gemeinsam sterben«. Was nichts anderes bedeutet als: Mag das Land auch vor die Hunde gehen, einige werden sich unter dem Deckmantel der Deutschen vielleicht für eine Weile retten können.
Zwei Tage in Budapest, im Bombenhagel; herbstlicher Sonnenschein; ich bin ruhig, gleichgültig gut gelaunt. Man spürt meine Ruhe, wendet sich vertrauensvoll an mich. Doch dann plötzlich, übergangslos, eine tiefe Depression; zwei Tage lang neununddreißig Grad Fieber.
Glitzernder Herbst, taufeuchte Blumen. Dicke, fette Mücken, schläfrige Wespen; sie summen wie die viermotorigen amerikanischen Bomber am Himmel. Bin mit Goethe in Neapel eingetroffen. Ich mag seine Freude nicht trüben, habe aber das Gefühl, dass er in Rom zu viel Zeit in der Gesellschaft von Deutschen, vor allem mit Tischbein , verbracht hat.
Der hinreißende Geisteskranke verrät sich in einem Satz: Stendhal bemerkt beiläufig, aber allen Ernstes: »Der schöne Anblick des Meeres heilt die Eifersucht.«
Ich glaube, dass nicht einmal eine nationale Katastrophe diese Mittelklasse, deren Kulturlosigkeit tief wie das Meer ist, zu erziehen vermöchte. Noch heute schwadronieren sie wutschäumend, mit wahnwitziger Sturheit die gleichen Parolen wie vor einem Jahr, wie vor fünf Jahren; sie träumen von »neuen Waffen«, von einem deutsch-englischen oder deutsch-russischen Separatfrieden … Da ist wirklich nichts zu machen. Aber es ist eine Schande, mit ihnen zugrunde zu gehen.
Ja, wenn es möglich wäre, Siebenbürgen zu retten! Und Ungarn! Aber es ist nicht möglich, Grenzen zu retten, wo es – innerhalb dieser bedrohten,
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