Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Karinthy, Árpád Tóth, Babits, Zoltán Somlyó! Wie einsam bin ich geworden. Was weiß schon diese Welt von dem dunklen Licht, das in unseren Herzen loderte?
Man braucht alles zur selben Zeit: Geduld und Sachlichkeit, Maßlosigkeit und Ekstase, eiskalte Aufmerksamkeit und Rausch. Anders geht es nicht.
Und man braucht Freude, Freude und wieder Freude! Eine Wonne, die schon dem Tod nahe ist. Die Wonne ist vielleicht noch mehr als das Gedicht. Oder dasselbe.
Kleine Zeichen: Am Mittag, in der 75er-Straßenbahn, drei sturzbesoffene SS-Kerle. Sonst zeigen sich diese khakiuniformierten Burschen stets höflich und diszipliniert in der Öffentlichkeit. Es ist das erste Mal, dass ich solche grölenden, selbstvergessenen, betrunkenen SS-Leute sehe, die anscheinend längst alles wissen und auf alles pfeifen.
Ein Wehrmachtssoldat steigt in die Straßenbahn ein, setzt sich still in eine Ecke. Ein alter Mann, dünn, sein Gesicht gequält, unrasiert. Seine Uniform ist abgetragen. Er hat eine weiße Henne bei sich, wärmt, beschützt sie mit ernster, sorgenvoller Zärtlichkeit.
Wie anders dieser deutsche Soldat in schäbiger Montur mit seiner Henne doch ist als jene Soldaten, die noch vor einigen Jahren am Donauufer entlang gen Jugoslawien rasten!
Babits war groß, sehr groß! Aber er wollte höher greifen, als seine Hand reichte. Deshalb wirkt seine Geste manchmal unsicher, gekünstelt, gewollt. Aber ergreifend ist er allemal.
Während ich diese Zeilen schreibe, gibt es wieder Luftalarm – zum vierten Mal in anderthalb Stunden. Man stumpft ab. Die Tiere dagegen ertragen diese Bedrohung nicht. An der Schiffsanlegestelle sah ich einen unter Schock stehenden schwarzen Hund; sein Besitzer erzählte mir, dass der Hund den großen Luftangriff auf Pestszentlörinc erlebt hat und seitdem ständig zittert.
Nachts wütende Bombenangriffe. Ich gehe nach Mitternacht nach Hause, durch die stillen Straßen Budas, in einer sternhellen Herbstnacht. Der Himmel ist wolkenlos, funkelt mit allen Sternbildern, die das menschliche Auge erreichen kann. Als wollte das Weltall seine ganze Pracht vorführen. Ich krieche aus dem unterirdischen Loch hervor, blicke zum leuchtenden Himmel empor und empfinde in dieser kalten Herbstnacht ein plötzliches Entzücken, als hätte ich eine Auszeichnung erhalten, als habe man diese Milliarden und Abermilliarden Sterne zu Ehren der Kreatur angesteckt. Leben ist etwas unfassbar Großes.
Und wie überraschend, wie beglückend mannigfaltig es ist! Es gibt den freien Willen; bis da und da kann ich frei über mein Handeln verfügen. Aber jenseits davon ständig, jeden Augenblick Überraschungen: Denn alles ist anders, mal ein bisschen, mal ganz, aber immer anders, als ich es mir vorgestellt habe. Manchmal viel besser. Oft viel hoffnungsloser. Und am Ende immer die Lösung. Und jenseits von allem die schönste aller Lösungen: der Tod.
Natürlich hallt in dieser sternklaren Herbstnacht nach dem Bombenangriff Pascals Zeile wider. Aber sie klingt jetzt nicht beängstigend. Das Schweigen des unendlichen Raumes hat nichts Erschreckendes, sondern etwas Beruhigendes.
Diesen Herbst reise ich mit Goethe: Wir befinden uns jetzt in Venedig. Von der Malerei verstand er nichts; er ließ sich von Palladio allzu sehr verzaubern und wandte sich im Banne dieses Zaubers undankbar von der deutschen Gotik ab; aber der bewegte, feierliche Moment, als ich Arm in Arm mit Goethe den Zuschauerraum eines venezianischen Theaters von vor hundertfünfzig Jahren betrete und wir uns dem Rhythmus des elfsilbigen italienischen Jambus hingeben, oder als wir an einem Fischmarkt oder auf den Stufen des Arsenals stehen bleiben: Welch großes Geschenk das ist, immer und erst recht heute. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Herbst noch in so außergewöhnlicher Gesellschaft nach Venedig reisen würde.
Seit sechs Monaten schleppe ich nun Gepäck mit mir herum wie ein Lastenträger: Schuhe, Kleider, Lebensmittel für Frauen, Männer und Kinder, denn … Aber wie mir das alles zuwider ist! Schon der Gedanke des Gepäckschleppens ist mir ein Graus und dann noch die karitative Pflicht, die mich dazu zwingt. Widerwillig trage ich diese Rucksäcke und mit Gebrauchsgegenständen vollgestopften Aktentaschen und habe dabei keineswegs das Gefühl, eine »hehre Pflicht zu erfüllen«. Ich habe nur das Gefühl, dass das alles widerlich und peinlich ist.
Aber man hat sich in diesen sechs Monaten gewisse Vorurteile und Hemmungen wunderbar abgewöhnen
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