Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Wunder dagegen braucht man Mut. Das stille, schlichte Wunder, wenn jemand den Mut hat, im Leben Geduld zu haben. Aber das ist sehr schwer.
In Vicenza konstatiert Goethe, dass man zum Scheitern verurteilt ist, wenn man die Menschen zu höheren Ansprüchen erziehen, ihnen ein größeres Selbstverständnis vermitteln will. Huxley drückt es so aus: Man kann den Menschen nur auf der Ebene des Göttlichen über sich erheben. Der Rest ist Sache der Politiker und Erzieher, nicht der Dichter.
Die Russen nähern sich Kolozsvár . Das Radio hat es am Morgen gemeldet. Ich beobachte meine Reflexe.
Der Garten glänzte im kühlen Septembersonnenschein. Ich begab mich wie immer in der Badehose auf den Hügel, machte Atemübungen, turnte auch ein wenig und lief. Danach las ich Stendhal und Goethe. Jetzt schreibe ich dieses Tagebuch; auch an meinem Roman habe ich gearbeitet. Mittags fahre ich nach Budapest.
Ist das nicht frivol? Nein. Das ist alles, was ich tun kann. Alles andere wäre Wehleidigkeit oder bloße Wichtigtuerei.
Wenn das, was jetzt in Ungarn passiert, in Anarchie ausartet, müssen wir es natürlich akzeptieren, wie ein Schicksal. Die Verantwortung all derer, die in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren ihre Pflicht versäumt und eine anständige, gesellschaftliche Prävention unterlassen haben, ist gewaltig.
Jedenfalls hat uns die Zeit eine Lektion erteilt: Ich hatte an den europäischen Humanismus und an jenen bürgerlichen Sozialismus geglaubt, der jedem Arbeiter Freiheit, Bildung und einen anständigen Lebensstandard sichert. Also nicht an diese egoistische, habgierige und kulturlose ungarische Mittelklasse, sondern an jene andere, die Europa aufgebaut hat und von der einige Generationen noch in Oberungarn und Siebenbürgen gelebt haben. Wenn dieser Anspruch aus dem ungarischen Leben verschwindet, muss ich mit ihm verschwinden.
Jetzt, da die ungarische Mittelklasse mit schlechtem Gewissen nach Ausreden sucht und die Koffer packt, ist der falsche Zeitpunkt für Schuldzuweisungen. Wer schuldig ist, möge flüchten oder büßen; sein Schicksal ist nicht mehr von Belang. Die Lektion lautet: Bleiben noch genügend Menschen von Geist, um Ungarn aus den Niederungen dieses verhängnisvollen Kurses wieder auf ein europäisches Lebensniveau, auf den Standard einer gerechten und kreativen Demokratie zu heben? Das wird unsere Aufgabe sein, wenn wir überleben. Der Rest ist genauso sehr Konjunktur wie die, die gerade untergegangen ist.
Das Gedicht ist das Größte. Größer noch als die Musik. Größer als das Leben. Nichts kann das Leben geben, was größer wäre als folgende Zeilen: »lässt / Mit Blitz und Regen Engel niedereilen / Aus Meer und Himmels knotigem Geäst: / Du reißt auf deinen blauen Wogen mit – / Mänadenmähne, hell, die aufgelöst / Vom Horizontsaum flattert zum Zenit – / Des nahen Sturmes wirre Lockenpracht …« Und dabei ergibt das Ganze gar keinen Sinn. Aber vielleicht ist es gerade deshalb so majestätisch, so beglückend. Was einen Sinn ergibt, ist schon irgendeinen Kompromiss eingegangen.
Eine glückliche Nacht in meinem Zimmer in Budapest, endlich wieder unter meinen Büchern; ich lese Gedichte. Shelleys »Ode an den Westwind«. Árpád Tóths Übersetzung lässt vermuten, dass auch das Original nicht großartiger sein kann. Ich lese es mehrmals hintereinander laut, vergesse die Sorgen und Nöte des Tages. Was für ein Glück, dass es auch das noch gibt! Wie reich man doch ist, selbst in dieser Grube, in die uns Niedertracht, Dummheit und Grausamkeit gestoßen haben. Glücklich schlafe ich ein, und meine Träume durchweht der Westwind: »Mach mich zu deiner Leier wie den Wald.«
Am Vormittag Daueralarm. Ich möchte am Roman arbeiten, kann aber nicht. Ich lese die Gedichte von Zoltán Somlyó .
Wie sehr er doch ein echter Dichter war! Ich kann »Morgengebet« noch heute nicht lesen, ohne dass mir Tränen in die Augen schössen. Das, nur das ist Dichtung: eine lautlose Musik, die durch das Bindemittel Wort etwas mitteilt! Dieser armselige, düstere, traurige Jude in den verwanzten Budapester Absteigen, im derb stinkenden Schmutz der Budapester Cafés, war eine der lautersten Erscheinungen der zeitgenössischen Literatur. (Für den vor zehn Jahren posthum erschienenen Band hat József Erdélyi ein einfühlsames Porträt des Dichters gezeichnet …)
Tiefe Wehmut: Wo seid ihr, ihr Meister und Mentoren meiner Jugend, denen ich noch zu Lebzeiten die Hand drücken durfte: Kosztolányi,
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