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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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unsicheren, sich verändernden Grenzen – keinen nationalen Zusammenhalt, kein verantwortungsbewusstes nationales Gewissen, keine nationale öffentliche Meinung gibt! Davon hängt alles ab. Wir werden Tag und Nacht bombardiert, sind von vielfacher Vernichtung bedroht. Jetzt wäre es leicht, für etwas zu sterben, was Sinn und Recht, Vernunft und Moral, Lebensform und Verheißung in einem ist! Aber dieses Ziel ist für niemanden erkennbar. Es ist nicht meine Aufgabe, mit einem Gewehr in der Hand zu kämpfen, aber ich bin inzwischen bereit, widerspruchslos zum Gewehr zu greifen, wenn jemand den Weg weist. Doch alles, was ich sehe, ist Finsternis, Feigheit, Egoismus, grausame Täuschung.
    Auch die Finnen haben Finnland geliebt und lieben es noch. Warum haben sie dennoch Frieden geschlossen mit den Russen, große Opfer gebracht? Weil sie das Land, die finnische Nation, die Zukunft, das kultivierte finnische Leben, das Leben der ganzen Nation retten wollten und nicht die Privilegien und den Großgrundbesitz einer Klasse.
    In Finnland gibt es keinen Großgrundbesitz.
    Das ungarische Judentum hat dem ungarischen Geistesleben große Talente geschenkt: Dávid Angyal, Bernát Alexander , Sándor Ferenczi , Milán Füst , Albert Gyergyai , Sándor Hevesi , Jenő Heltai und noch einige Dutzend Namen drängen sich mir auf. Aber wie seicht war unter dem Deckmantel dieser Elite der Durchschnitt – und das allein zählt! –, war alles, was sie in Presse, Theater, Verlagswesen produziert, popularisiert, verbreitet haben! Diese »geistige Front« ist in gleichem Maß verantwortlich dafür, dass die breite Masse des Ungarntums einschließlich der Mittelklasse genauso ungebildet und damit moralisch unverantwortlich blieb wie die Gentry, die Großgrundbesitzer und das von ihnen ausgehaltene Beamtentum. Wenn wir die Wahrheit wollen, müssen wir sie heldenhaft, bedingungslos wollen. Man kann nicht in Klatschblättern ein »geistiges Niveau« vorgaukeln und zur gleichen Zeit bewusst auf jeden höheren geistigen Anspruch verzichten! Gewiss, es gab auch anderes. Es gab auch einen Osvát , einen Ignotus , die Zeitschrift Nyugat … Aber zur breiten Masse sprach eine Presse, die so war, wie sie eben war, und es waren jüdische Csínom Palkós , die, geschmückt mit Federgras und Bändern in den Nationalfarben, jenes erbauliche Gebräu, jenes Kuddelmuddel rührten, das jeden, der es verschlang, ganz hübsch verdummte. Als ich zum ersten Mal mit diesen Blättern in Kontakt kam, glaubte ich noch etwas retten, eine Prise Pfeffer in dieses Gebräu, ein Flämmchen Licht in diese Dunkelheit hineinschmuggeln zu können! Ich habe mich getäuscht. Und die Juden sollten sich nicht wundern, dass diese habgierige Gesellschaft, die nicht zuletzt infolge ihrer eigenen geschäftlichen Gier und geistigen Anspruchslosigkeit – genauer: ihres geistigen Pseudoanspruchs – ungebildet blieb und moralisch verkam, später jene Verbrechen beging, die den Untergang so großer Teile des Judentums und schließlich die Vernichtung des ganzen Ungarntums zur Folge hatte. Denn Bildung bedeutet nicht nur Heldenhaftigkeit, Bildung bedeutet auch Moral. Wenn sie die Wahrheit wollen, sollen die Juden Helden sein; sollen sie wirklich gebildet und anspruchsvoll sein.
    Diese Kommanditgesellschaft, die das Land unter dem Etikett des »Geistes von Szeged « fünfundzwanzig Jahre lang ausgenutzt hat, sorgte nicht nur dafür, dass jeder höhere geistige Anspruch ausgesiebt und eingeschüchtert, jedem echten Talent die Lust und die Flügel beschnitten und der ganze aus reichem Humus sprudelnde Gewinn im Namen von durch Herkunft und Weltanschauung begründeten Privilegien abgeschöpft wurde. Nein, sie haben auch dafür gesorgt, dass dieser Vorgang von ihrer Presse mit der passenden Begleitmusik versehen wurde; während im Vordergrund die patriotischen Baritone und Buffos schwülstig sangen, spielte das Presseorchester immer nur zwei Melodien, mal andante, mal fortissimo: die Themen Bolschewismus und Judenfrage.
    Und die »Pressefreiheit« der vergangenen fünfundzwanzig Jahre! … Wer kann sagen, durch welche Kanäle alle Aussagen, in denen es um die Wahrheit ging, versickert sind? … Fünfundzwanzig Jahre lang schrieben wir – zu allem, was irgendeinen nationalen, gesellschaftlichen oder moralischen Bezug hatte! – nur halbe Sätze. Die andere Hälfte des Satzes blieb im Füllfederhalter und im Nervensystem der Schriftsteller zurück. Diese subtile geistige Schreckensherrschaft,

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