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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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die nicht mit Schafott und Ochsenziemer arbeitete, in der das Konzert des ungarischen Geisteslebens ein Vierteljahrhundert durch die aufblitzenden Blicke und Gesten Siegelringe tragender Beamten dirigiert wurde! Wer weiß etwas davon? …
    Sz ., dem ich auf dem Schiff begegne, bemerkt sachlich: »Pressefreiheit bedeutete in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren nichts anderes, als dass es erlaubt war, in der Ehre des Einzelnen herumzustochern.«
    Tag und Nacht Bombenangriffe. Beim nächtlichen Luftalarm bin ich schon müde; ich warte sein Ende in meinem Etagenzimmer ab. Das ist sicher leichtfertig, denn erst letzte Nacht schlug eine Bombe in ein Haus in der Királystraße ein und hinterließ einhundertsechzig Tote im Luftschutzkeller … Aber die Gleichgültigkeit, die sich meiner bemächtigt, ist stärker als alles andere. Erst bei der Entwarnung erwache ich aus meinem bleiernen Halbschlaf. Ich trete auf den Balkon hinaus; im Dunkeln das Klappern holzbesohlter Schuhe. Eine kalte, sternhelle Nacht. Die Stadt ist wie erstarrt. Es war der dritte Angriff in vierundzwanzig Stunden. Unsere Eisenbahnbrücken sind weggerissen, der Straßenbahnverkehr stand am Nachmittag sechs Stunden lang still, Strom und Telefon sind mal vorhanden, mal nicht, Brot gibt es schon seit dem Morgen keines mehr, da man die Läden gestürmt hat und keine Züge mehr ankommen, Reisende müssen bei Gödöllő aussteigen, da der Rangierbahnhof in Rákos zerbombt worden ist, gestern hat auch die Strecke nach Székesfehérvár Bomben abbekommen, Kolozsvár ist evakuiert worden … Ich höre im Dunkeln das Klappern der nach dem Luftalarm nach Hause trottenden Schuhe, atme den kalten, staubigen Nachtwind, betrachte die Sterne. Keine Klage, keine Revolte; in mir herrscht tiefe Gleichgültigkeit.
    Der Zerfall ist jetzt schon spürbar, mit Händen greifbar. Hunderttausende Menschen sind mangels öffentlicher Verkehrsmittel zu Fuß unterwegs; an vielen Straßen läuft der Verkauf in fensterlosen Läden, gleichsam im Freien; ich suche meinen Arzt auf, er gibt mir die Spritze in der Diele, da seine Jalousien und Fensterscheiben beim nächtlichen Angriff herausgerissen wurden; aber darüber redet schon niemand mehr. Drei deutsche Divisionen haben um Budapest Stellung bezogen; die Deutschen »verteidigen« Budapest, wir werden zum Kriegsschauplatz. So ist das Verhängnis: kurz und bündig, roh, wortkarg. Ich lausche eine Weile der finsteren, schlurfenden Masse der nächtlichen Heimkehrer. Ich lege mich hin, lese Morands kurze Maximen über das Reisen. Ich schlafe tief.
    Wieder ein Tag, an dem ich nicht umhinkann, in jeder Begegnung Gottes Finger, seine wunderbare Vorsehung, seine souveräne Ordnung zu erkennen!
    Welch undankbare Aufgabe erwartet all jene, die die verfälschten Ideale von Nation, Christentum und Heimat werden beseitigen müssen! Sie tun mir leid.
    Am Morgen entdecke ich ein Buch im Briefkasten: ein Exemplar der finnischen Ausgabe von Wandlungen einer Ehe . Das Buch ist soeben erschienen, und dank irgendeiner Brieftaube fand ein Exemplar durch alle Kriegswirren hindurch seinen Weg zu mir. Finnland hat letzte Woche einen Waffenstillstand unterzeichnet und alle diplomatischen Beziehungen zu Ungarn abgebrochen. Dieses Buch ist eine letzte Botschaft aus Europa.
    Und dabei verstehe ich kein einziges Wort dieser der unseren verwandten Sprache! Jede beliebige ausländische Ausgabe meiner Bücher, ob schwedisch, holländisch, spanisch oder tschechisch, verstünde ich eher als dieses finnische Bruderwort!
    Menschen kommen mitten am Tag betrunken aus den Luftschutzkellern; eine grell geschminkte Frau torkelt umher wie nach einem Gelage.
    Ein SS-Mann schleppt seit Jahren eine polnische Frau mit sich herum; er benutzt sie wie ein dressiertes Tier, nimmt sie von Land zu Land mit, lässt sie nicht gehen, hält sie gleichsam an der Leine und im Käfig. Die Frau hält sich gerade mit ihm in Budapest auf und hat ihre Bekannten um Gift angefleht.
    Pläne: Alles vergessen, was ich bisher geschrieben habe. Den Detektivroman schreiben. Ein Mann stirbt; alle sind verdächtig. Wer hat ihn umgebracht? Die Familie? Die Bediensteten? Der Geheimpolizist durchleuchtet sein Leben. Am Ende findet er ein einziges Beweisstück, das alles erklärt: fehlende Liebe. Dieser Mangel ist ein schnell tötendes Gift.
    Der Mais, die Walnuss, die Zwetschge sind reif. Die Kartoffeln sind eingefahren worden. Seit einigen Tagen essen wir süße Trauben. Winterapfel und Winterbirne warten

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