Tagebücher 01 - Literat und Europäer
noch auf die letzten Sonnenstrahlen des Herbstes. Gestern eisiger Nebel, moderig riechender Regen. Das Mastschwein des Gärtners wiegt bereits hundertvierzig Kilo. Es hat große Ohren wie ein Elefant. Seit einigen Tagen ist es schlecht gelaunt, frisst nicht mehr.
Ein Zentner Kartoffeln kostet achtzig Pengő, ein Sack Weizen vierhundertfünfzig. Mein Geld schwindet, und ich habe kein Einkommen. Ich gehe im Nebel spazieren, am Donauufer, das Wasser ist seicht, der Schiffsverkehr wird bald eingestellt werden. Ab und zu explodiert eine Zeitbombe am Ufer, dröhnen Flugabwehrkanonen auf der Pester Seite. Entlang der Theiß überschwemmen mit Bündeln bepackte Flüchtlinge aus Siebenbürgen die Dörfer. Der Krieg ringt schon nach Atem, im Westen und im Osten raffen sich die Reservetruppen zu immer neuen Attacken auf. Arbeiten kann ich nicht, ab und zu schreibe ich zwei, drei Tage an einigen Romanseiten, dann wochenlang keine einzige Zeile. Goethe ist in Sizilien eingetroffen, er ist sehr glücklich.
Ich bekomme in diesem Garten die Struktur des Herbstes aus unmittelbarer Nähe mit. Der Garten ist jetzt nicht »weise«, nein; er ist nur hilflos, im Zerfall befindlich. Ich laufe in der Abenddämmerung sieben, acht Kilometer am Flussufer entlang. So gingen wohl Anarchisten vor ihrer Tat spazieren, mit einer Bombe in der Manteltasche. Doch ich habe keine Bombe bei mir. Das ist der ultimative Bankrott.
Schriftsteller, was für kranke Seelen! Wir sind es alle, auch ich. Davon geheilt zu werden ist beinahe unmöglich.
Es ist gut möglich, dass ich ohne Alkohol schon vor Wochen Selbstmord begangen hätte. Morphin habe ich genug, um mehrere Menschen für immer einzuschläfern. Der Wein hilft mir, solche Nächte zu überstehen.
Der Herbst ist jetzt festlich, überschwänglich. Hellblauer Nebel über der Donau. Es hat seit drei Tagen keinen Bombenangriff mehr gegeben, die Landschaft kommt allmählich zu sich, atmet schwer.
Christentum, sagten sie – und meinten einen ohne Fachausbildung erworbenen Gewerbeschein. Christentum, sagten sie und meinten den Raub jüdischer Möbel. Christentum, sagten sie und meinten die Einschüchterung jedes freien Gedankens, jeder persönlichen Meinungsäußerung. Ich bin ein Christ, sagten sie hochmütig und hielten die Hand auf.
Ich schlafe nur zwei, drei Stunden in der Nacht; danach liege ich bis zum Morgengrauen mit offenen Augen im Bett. Ich mache kein Licht, lese nicht. Ich fürchte mich nicht, bin nicht besorgt. Es ist eine taube Ruhe, eine wachsame Gleichgültigkeit.
Russische Reiter haben die ungarische Grenze erreicht.
Jetzt beginnt etwas Geheimnisvolles, Spannendes, schmerzhaft Interessantes: die Veränderung.
Und ich muss noch den dritten, abschließenden Band der Bekenntnisse eines Bürgers schreiben. In den schlaflosen Nächten denke ich über die Struktur dieses Bandes nach.
Es ist einem Schriftsteller nur selten gegeben, ein großes Thema, das ihn im Innersten bewegt, auch in der Wirklichkeit mitzuerleben, zu durchleben, bis zu seinem Ausgang mitzuverfolgen. Ich habe das ungarische Bürgertum, die Klasse, in die ich hineingeboren wurde, gesehen, kennengelernt, in all seinen Aspekten bis zu den Wurzeln untersucht; und nun bin ich Zeuge seines völligen Zerfalls. Die Beschreibung dieses Zerfallsprozesses: das ist vielleicht die einzige wirkliche schriftstellerische Aufgabe meines Lebens. Die Beschreibung des Zersetzungsprozesses der letzten fünfundzwanzig Jahre. Die subtilen Filter, durch die jedes echte Talent offiziell oder inoffiziell ausgesiebt wurde. Die Art und Weise, wie jede wettbewerbsfähige Persönlichkeit gezähmt, eingeschüchtert, domestiziert wurde. Wie man anfing, sich in Insignienspielchen, Stammtischspielchen, Weltanschauungsspielchen zu ergehen. Und wie das Ganze in einen wilden Raubzug und den völligen Untergang mündete.
Seit zehn Tagen keine Bombenangriffe mehr. Vor Szeged, in Nagyvárad wird gekämpft , Nagyszalonta ist gefallen.
Tage in Budapest, in denen ich die Stadt bewundern muss. Budapest ist ruhig. Hundertachtzig Kilometer weiter tobt in den ungarischen Städten der Krieg; rings um Budapest werden Gräben ausgehoben. Die Cafés, Espressos, Restaurants, Läden sind voller Gäste, voller Kundschaft. In manchen Lokalen gibt es immer noch echten Bohnenkaffee, in vielen Restaurants kocht man gut und nicht teuer. Die Stadt schnattert. Die Russen sind in Makó , der Preis des Napoleondor ist auf zweitausendfünfhundert Pengő hochgeschnellt, die
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