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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Regierung Szálasi–Rajniss. A . glaubt, dass ihm der Reichsverweser diese Bitte abschlagen und man die Arbeiterschaft und das Militär gegen die Deutschen mobilisieren werde. Darauf zielte vielleicht schon der versöhnlichere Ton der Churchill-Rede vor einigen Tagen ab. Und es gab seit zwölf Tagen keinen Luftangriff mehr.
    Wenn das Militär gehorcht, wird es natürlich Kämpfe geben; drei deutsche Divisionen sind um Budapest zusammengezogen worden. Auch unsere Gemeinde befindet sich innerhalb dieses Ringes. Was auch geschieht, es wird für die Zukunft von unschätzbarem Vorteil sein, wenn wir handeln. Und eine Kugel kann man so oder so abbekommen; das muss man riskieren.
    Seit vierundzwanzig Stunden gießt es in Strömen. Aber die Gegend ist wasserarm; der Brunnen ist ausgetrocknet, in dem mit Sandbänken durchsetzten Wasser der Donau kommen kleine, kahle Sandinseln zum Vorschein. Diese Wasserarmut weckt irgendeine uralte, beunruhigende Erinnerung; ein Städter wie ich nimmt sie genauso erschrocken zur Kenntnis, wie ein ägyptischer oder chinesischer Bauer die Trockenheit zur Kenntnis nimmt. Mein Schicksal wird nicht nur vom »historischen Schicksal« bestimmt, sondern auch von der Frage, ob es regnen wird.
    Im Radio wird das Werk eines französischen Komponisten angesagt: Die Wasserträgerin . Es folgt ein reichlich disharmonisches Stückchen. Aber warum heißt es Die Wasserträgerin ? Was hat dieser Notenmischmasch mit einer Wasserträgerin zu tun? Durch welche Sinneswahrnehmung möchte der Komponist in der Sprache der Musik die Vorstellung einer Wasserträgerin in mir evozieren? Sprechen wir verschiedene Sprachen? Oder bin ich taub und blind für die Vision des Komponisten? Vielleicht.
    Am Nachmittag die Beerdigung eines Bekannten. Als der Sarg ins Grab gesenkt wird, ertönen die Sirenen.
    Verstört, erschrocken, ein wenig neidisch betrachten die Trauernden den Sarg im offenen Grab: Der Tote ist schon in Sicherheit, in einem regulären Luftschutzgraben. Vielleicht ist das die einzige Sicherheit auf Erden.
    Jetzt kommt die Zeit, da »Broterwerb« keine Metapher, sondern die alltägliche Wirklichkeit ist: Das Brot muss tatsächlich schwer erworben oder aufgespürt werden, Tag für Tag, beim Bäcker, der backt oder nicht backt, weil die »warme Stube« keine dichterische Beschreibung einer menschlichen Wohnsituation, sondern ein tragisch-ernsthaftes, beinahe unlösbares Problem ist. Überaus seriöse Menschen sprechen darüber, dass sie eine Adresse kennen, wo es Eier gibt – drei Stück, zu je eins siebzig.
    Es kommt nicht nur darauf an, was passiert, sondern auch auf die Art und Weise, wie ich das, was passiert ist, annehme.
    Gib also auf beide acht: auf die Welt, in der ein Bissen Brot eine ernsthafte Aufgabe darstellt, und auf deine Seele, die auch nicht anspruchsloser als dein Körper sein kann. Versorge auch deine Seele täglich mit Nahrung, und vermindere nicht die Qualität dieser Nahrung. Vielleicht wird es in diesem Winter keine Kartoffeln und kein Heizmaterial, dafür aber Goethe, Shakespeare und János Arany geben.
    Die allgemeine Unsicherheit lockt gewisse Leute wieder aus ihrem vornehmen Frühjahrs- und Sommerexil hervor. Heute ist die Stadt – vielleicht – sicherer als das vor Kurzem noch als sicher geltende Umland.
    Diese Vorsichtigen, die in diesen Monaten so viel hätten helfen können! Stattdessen versteckten sie sich und zwinkerten uns aus der Ferne zu, schrieben uns bestenfalls wehleidig-mitleidvolle Briefe. Nicht einem Kind haben sie geholfen, nicht eine Nacht einen Flüchtling bei sich aufgenommen. Sie blieben demonstrativ allem fern, was in diesen Monaten Elend war und eine Aufgabe. Jetzt treten sie händereibend vor. Aber sie sind nicht so unschuldig, wie sie glauben.
    Rings um Budapest werden Gräben gezogen; ein Beamter der Gemeindeverwaltung hat auch mich zu dieser Arbeit aufgefordert, fand sich aber bereitwillig damit ab, dass ich meine Teilnahme verweigerte.
    Budapest und Ungarn sind nicht durch Gräben zu retten; die Rettung kann nur von innen, aus den Seelen der Menschen kommen.
    Am Vormittag gehe ich mangels anderer Verkehrsmöglichkeiten zu Fuß von Leányfalu nach Szentendre. Acht Kilometer; den Spaziergang im feuchten, eisigen Oktoberwind meistere ich erstaunlich gut. Unterwegs lange Fahrzeugkolonnen mit Geschützen; die Deutschen ziehen in Richtung Budapest. In der Stadt kursieren die wildesten Nachrichten. Die Berichte von vorgestern scheinen sich zu bestätigen; ich rufe

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