Tagebücher 01 - Literat und Europäer
fliehenden Pfeilkreuzler-Führer kaufen fieberhaft Gold und Valuten. Die Theatersaison hat begonnen, gerade wurde Shaws Candida aufgeführt. László Endre hält sich, nachdem er fünfhunderttausend Juden deportiert und dann angekündigt hat, an die Front zu gehen, in Köszeg auf. Soprons Einwohnerzahl ist von vierzigtausend auf sechzigtausend angewachsen: Hier sitzen all jene auf gepackten Koffern, die Grund zur Flucht haben. Sztójay, der ehemalige Ministerpräsident, erholt sich auf dem Semmering von den Anstrengungen der sechsmonatigen Judenvernichtung.
Das alles ist Müll. Interessanter sind die Antworten der Menschen auf die Fragen der Zeit und des Augenblicks. Viele richten ihre Wohnungen neu ein, lassen ihre Zimmer streichen, ihre Möbel neu beziehen. Man hat einen Großteil der internierten Juden wieder freigelassen, viele Bekannte gehen ohne Stern spazieren, manche Juden haben sich auch schon Opernabonnements für den Winter gesichert. Natürlich haben auch sie nichts dazugelernt. Die große Mehrheit der Juden gehört zur Mittelklasse und teilt das Schicksal dieser Klasse, auch wenn sie zwischendurch Märtyrer waren. Alle erstellen Listen, spitzen die Bleistifte und notieren die Namen all jener, die sie möglichst bald am Galgen sehen wollen. Z ., ein früherer sozialistischer Schriftsteller, der in den letzten Jahren für ein Pfeilkreuzler-Blatt gearbeitet hat, eilt mir auf der Straße entgegen, dann weicht er mit unverkennbaren Anzeichen von Verfolgungswahn vor mir zurück: »Ich sehe, du fliehst vor mir. Ich kann dich verstehen«, sagt er. In Wahrheit flüchte ich nicht vor ihm, sondern laufe der Straßenbahn hinterher, die mir vor der Nase davonfährt.
An einem verregneten Tag lese ich Hugh Wilsons Buch Lehrjahre eines Diplomaten . Ein sachlicher amerikanischer Herr berichtet selbstzufrieden, dass man in Paris besser speisen kann als in Guatemala und während des letzten Krieges in Bern besser gekocht wurde als in Berlin.
Die Christinenstadt funktioniert auf Freundschaftsbasis in diesen wirren Zeiten: Beim Apotheker bekomme ich Kalbfleisch, beim Tabaktrafikanten ergattere ich manchmal Aspirin, der Gemüsehändler besorgt mir jede Woche hundert Memphis-Zigaretten, und ein Kaffeegeschäft hat mir zehn Zentner Holz versprochen. In einem Espresso bekommt man Wollstrümpfe und Napoleondor; aber beide sind sehr teuer.
Abends befällt mich eine Müdigkeit, als hätte auch ich den ganzen Tag Gräben ausgehoben. Ich lese Shakespeares Sonette, das Buch fällt mir aus der Hand, so schlafe ich ein; am Morgen finde ich das Buch neben meinem Bett, lese auf der aufgeschlagenen Seite die Anfangszeilen des 66. Sonetts: »Nach Grabesruh muss müde ich mich sehnen, Wenn das Verdienst als Bettler sich mir zeigt.« Ich murmle diese Zeilen, während ich meine Schuhe putze; und schon bin ich nicht mehr so müde, ich werde heiter und freue mich auf den Tag.
Alle packen fieberhaft; wer im Frühjahr aufs Land geflohen ist, zieht jetzt nach Budapest, was sie gestern vor den Bomben retten wollten, möchten sie nun vor der Plünderung schützen. Und dann gibt es auch noch die Gleichgültigen und Resignierenden und die Aufrichtigen, die zugeben, dass es fast unbequemer ist, zu packen, als in Todesgefahr zu leben.
Retten, wen man nur retten kann; bis jetzt die Juden, fortan die Christen, jene, die wirklich unschuldig sind; damit werden die nächsten Monate vergehen wie schon die letzten. Ich suche meinen untergetauchten jüdischen Freund in einem konspirativen Zimmer im fünften Stock auf, das die Herzogin W . bereits für die nächsten Monate von ihm gemietet hat. Niemand schläft zu Hause, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.
Nur mich selbst zu retten verspüre ich keine Lust; diese Aufgabe habe ich bisher ganz und gar Gott überlassen und werde sie auch in Zukunft Ihm überlassen.
Der 2. Oktober .
Ich will mit dem Fünfuhrschiff am Morgen nach Budapest fahren. Der Regen, der sich in heftigen Schauern über die Landschaft ergießt, lässt mich auf das Schiff am Nachmittag warten.
Vormittags um elf erscheint A . Er sucht I ., der vergangene Woche hier war und nebenan schlief. Er ist mit einem Militärwagen gekommen, im Wagen vor dem Tor wartet General U . auf ihn; I . hätte die Aufgabe, sofort Kontakt zur Arbeiterschaft aufzunehmen, da Botschafter Veesenmayer mit allen Vollmachten ausgestattet aus Deutschland zurückgekehrt sei; er verlange die Absetzung der gegenwärtigen Regierung und die sofortige Ernennung einer
Weitere Kostenlose Bücher