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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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H . an, der doch besser informiert ist als die meisten Menschen, und er beruhigt mich, dass »alles im Lot« sei. Näheres kann er am Telefon natürlich nicht sagen. Ich kann mir nicht vorstellen, was »im Lot« sein soll – schließlich stehen die Russen bei Szeged, ziehen die Deutschen in Richtung Budapest –, aber ich beruhige mich. Eisiger Regen. Ich mache in der Wohnung den Elektroofen an und gehe an die Arbeit.
    Die Lage ist todernst, aber ich kann nichts dafür, das Ganze erinnert mich auch furchtbar ans Indianerspielen. Alle putzen und ölen irgendwelche Geheimwaffen, viele schlafen wieder auswärts; aber mir scheint, sie haben gar keinen Grund dazu, denn kein Mensch sucht sie.
    Sicher ist nur eines: Alle, die überleben, werden ihre ganze Kraft der Erziehung dieses Landes widmen müssen – der Erziehung zur Demokratie, ob es ihnen passt oder nicht.
    Die ganze Woche mit Goethe in Sizilien; wir sind schon in Girgenti eingetroffen; ich erinnere mich an den buttergelben und blitzblauen Vormittag, an dem ich wirklich dort war. Und zur Erholung zwischendurch Shakespeares Sonette; so wie ein Kranker, der Musik hört.
    Wie die fixe Idee zu einem Wahnsinnigen, so kehrt alles wieder. Im sechsten Jahr des Krieges plappert man exakt dieselben Worte, dieselben Wahnvorstellungen nach wie im Oktober 1918. Japan wird es schon richten! Die neuen Waffen werden es schon richten! In Wirklichkeit waren das durch nationalsozialistischen Terror organisierte Deutsche Reich und seine Verbündeten diesem Krieg genauso wenig gewachsen wie das Regime Wilhelms und Franz Josephs ihrem Weltkrieg. Im Herbst 1918 stand kein einziger feindlicher Soldat auf dem Territorium der verbündeten Mächte. Heute kämpft man bei Aachen und diesseits der ungarischen Grenze.
    Was die Sache so hoffnungslos macht, ist ihr krampfhaftes Festhalten an den eigenen Interessen und den aus diesen Interessen abgeleiteten Wunschvorstellungen. Wo es keine einheitliche nationale Volksmeinung gibt, wo es nur Parteien- und Klasseninteressen gibt, ist eine einheitliche nationale Haltung in Augenblicken der Gefahr nicht zu erwarten. Jeder fürchtet sich auf seine Weise vor der Abrechnung, und jeder fürchtet sich zu Recht.
    Gendarmen hat es schließlich auch in Schweden und Dänemark gegeben. Und auch in Holland. Das sind große Unterschiede.
    Frost, Gefrierpunkt. Holz ist keins zu haben. Die Fenster, wo es sie noch gibt, sind einfache Fenster, man hat die inneren Scheiben wegen der Luftdruckgefahr in die Keller gebracht. Der Zugverkehr ist weitgehend zum Erliegen gekommen. Ein Lastwagen mit fünf Tonnen Ladegewicht verlangt für eine Fahrt von Miskolc nach Budapest neuntausend Pengő. In Budapest verlangt man dreizehn Pengő für Trauben, die auf dem Land für drei Pengő verschleudert werden; man kann die Ware nicht in die Stadt transportieren. Mein Schuh hat ein Loch, jedoch kein Schuster ist bereit, ihn schwarz zu sohlen; aber auch auf Bezugsschein gibt es keine Sohlen. An manchen Tagen sind weder Brot noch Kartoffeln zu haben; einige der großen Mühlen sind ausgebrannt, man kann die Ernte nicht transportieren.
    Jüdische Wohnungen werden indessen noch immer geplündert, auch in der Hauptstadt. Sie schrecken vor nichts zurück, »amtliche Organe« transportieren aus den verlassenen Wohnungen der Juden Möbel, Kleider und Bettwäsche ab.
    Ich ziehe Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit aus dem Regal. Es ist schon erschütternd, wie wahrheitsgetreu er die Rülpser und das Todesröcheln einer untergehenden Welt festgehalten hat. Aber dieselben Leute haben auch fünfundzwanzig Jahre später noch nichts dazugelernt.
    Ich habe kein Zuhause mehr, im alten Sinn des Wortes. Ich bin nur so mal hier, mal da. Meine Kleider, meine Unterwäsche, meine Schuhe zerfallen, nutzen sich ab; die Verlotterung vollzieht sich verblüffend schnell. Aber auch in mir zerfällt etwas, nutzt sich ab, auch von innen verlottere ich.
    Große Sehnsucht: zu arbeiten. Und zu den Büchern zurückzukehren, die nicht nur lehren und ergötzen, sondern dem Leben auch seinen tieferen Sinn verleihen! Aber dazu gehört eine bestimmte Lebensform, ein bestimmter Lebensstil. Dieses Herumlungern, Dahinvegetieren, bloßes Existieren ist kein Leben, sondern eine trostlose, traurige Zeitverschwendung.
    Wie sagt es doch Wilde? Es gibt nichts Traurigeres, als wenn man sich nach etwas sehnt, und nichts Tragischeres, als wenn sich diese Sehnsucht erfüllt.
    Ich lese das Buch des Mathematikers Poincaré : La

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