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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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der Nacht haben sie die Tabaktrafik ausgeraubt. Auch unter den hiesigen Deutschen ist die Stimmung gekippt; von einem Tag auf den anderen hat sich finsterer Hass in den Seelen eingenistet. Was sie gestern noch nicht begriffen haben, kapieren sie jetzt. Sie verstehen immer nur die Wirklichkeit.
    Die Völkerwanderung bewegt sich jetzt in umgekehrter Richtung: Sie eilen mit ihren Bündeln von den Dörfern wieder in die Stadt zurück, kümmern sich nicht mehr um die Bombengefahr.
    Am Vormittag eine lange Kolonne in der Attilastraße: ein Flüchtlingstreck einspänniger und zweispänniger Planwagen. Niemand weiß, woher sie kommen, wohin sie fahren. Vielleicht sind es Ruthenen, vielleicht Szekler oder Rumänen aus dem Grenzgebiet. Gesichter, wie man sie in dieser Stadt noch nie gesehen hat, Menschen, die von ganz weit unten kommen. In den Gesichtern völlige Gleichgültigkeit. Der Mensch dieser Masse streitet nicht, er interessiert sich nicht für die politische Haltung des Städters: Er kommt von tief unten, besitzt nichts als die Sachen, die er auf den Wagen geladen hat, und eine Axt. Und wenn er eines Tages mit dieser Axt ausholt, wird keine Zeit bleiben, sich vorzustellen.
    Joyce’ Novellen , Werke aus der Jugend, realistisch, im Flaubertschen Stil. Aber man spürt in jeder Zeile die Spannung, die diese Realität eines Tages sprengen und in eine epische Dimension heben wird.
    Ich bin auf ein sieben Jahre altes Esquire -Heft gestoßen. Betrachte die Reklame. All diese Whiskys, Automobile, Tennisschläger, Schlangenhautschuhe, Edelsteine, ausgefallen geschnittenen Männerhemden, aus rätselhaften Stoffen gefertigten Wäschestücke für Damen, diese an Detailversessenheit trunkene Welt – ja, gibt es das heute überhaupt noch irgendwo? Ich muss wieder daran denken, dass ich in Budapest drei Tage lang vergeblich nach einem Schuster gesucht habe, der mir einen Lederfleck auf die Schuhsohle genagelt hätte.
    Die Deutschen sind fort, das Dorf atmet auf. Diese jungen Soldaten wurden schon im Rahmen von Goebbels’ totaler Mobilmachung zwangsrekrutiert; ihre Ausbildung ist mangelhaft, sie haben am Vormittag hier im Maisfeld vor dem Haus geübt; von hier wurden sie in Richtung Süden gebracht.
    Ein Rekrut betritt den Laden des Gemüsehändlers. Er kauft ein halbes Pfund Trauben, zählt zaghaft die Pengős ab. Er ist aus Wien, sehr jung und sympathisch. Ich bedaure ihn zutiefst, kann nicht anders.
    Der Gärtner macht sich Gedanken über die Weltlage: Er ist besorgt um sein Schwein, das durch diese Weltlage so oder so bedroht ist. Sowohl durch die patrouillierenden deutschen Soldaten als auch durch die neue Weltordnung der russischen kommunistischen Besatzer. Sein Misstrauen ist tief, historisch, begründet.
    Am Vormittag besuche ich das Schwein in seinem Koben, nehme es gründlich unter die Lupe. Denn letztendlich geht es immer um dieses Schwein. Das ist die Realität. Alles andere, was darüber gestülpt wird: Weltordnungen, Weltanschauungen, Gesellschaftssysteme – sind nur ein vages Nebelbild.
    Es kann für diese Mittelklasse, diese im Geist der Turul-Kameradschaft und der vormilitärischen Levente-Bewegung erzogene Jugend nur eine wirkliche Strafe geben: wenn man sie zwingt, sich statt für Géza Gyóni für Babits zu begeistern.
    Die Russen haben mit einer groß angelegten Truppenbewegung begonnen : Sie dringen von Serbien und Kroatien nach Norden vor und kreisen das Donaubecken ein.
    Das Besorgen einer Mastgans verlangt einem heute genauso viel geistige und körperliche Energie ab wie früher die Aufstellung eines mathematischen Lehrsatzes.
    Es ist keinesfalls sicher, dass der zornige Gouverneur von Messina, der Goethe so kühl empfing, ein bösartiger Mensch gewesen ist. Er war wohl eher nur ein trauriger und einsamer Mensch.
    Sehr viel Grausamkeit hat ihren Ursprung in Trauer, Schüchternheit und Einsamkeit.
    Das Gömbös-Denkmal wurde erst beschmutzt, dann gesprengt.
    Es war ein schlechtes Denkmal, gefertigt aus einem großen weißen Marmorblock, der auch zu einem edleren Zweck hätte verwendet werden können. Dieses Denkmal symbolisierte alles, was in Ungarn in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren niederträchtig, habgierig, schwülstig, verlogen chauvinistisch, schwärmerisch und bedrohlich selbstgefällig war. Die jungen Offiziere, die Grobheit mit Disziplin verwechselten, die rüden Beamten, die alles, was ihnen an Kultur und Charakter fehlte, durch weltanschaulichen Dünkel kompensierten, das nach Beute

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