Tagebücher 01 - Literat und Europäer
valeur de la science . Ich lese unaufmerksam, nervös, müde und oberflächlich; ich kann seinen mathematischen Gedanken nicht folgen, mir fehlt das Wissen. Doch plötzlich leuchtet mir der Sinn seines Buches ein. Das Ziel der Wissenschaft ist die Erkenntnis der Wahrheit; die Methode des Wissenschaftlers ist die Logik oder die intuitive Erkenntnis. Poincaré glaubt an die Intuition; ein Gedanke sei nichts als ein Blitzschlag zwischen zwei unendlichen Dunkelheiten, sagt er.
Das Fehlen einer geregelten Arbeit oder besser die geregelte Arbeitslosigkeit demoralisiert mich vollkommen. Ich bin seit Wochen unfähig, Die Schwester fortzusetzen; mir wird aber auch immer klarer, welch großer Fehler – ja, »mehr als eine Sünde, ein Fehler« – es war, dass ich in meinen Experimenten der letzten Jahre Zugeständnisse an die Wirklichkeit gemacht habe. Literatur hat nicht die Aufgabe, die katasteramtliche oder kriminologische Wirklichkeit abzubilden. Die Erscheinung heraufzubeschwören, das neblige Bild der Vision festzuhalten: das ist die Wirklichkeit der Literatur. Alles andere ist Rechenschaftsbericht in Romanform. Eine solche Aufgabe geht mich im Innersten nichts an.
Aber wenn ich es schon begonnen habe, muss ich es um der Ehre willen auch zu Ende bringen; so wie man ein Verbrechen zu Ende führt.
Das Buch von Joyce auf Französisch: Gens du Dublin . Es ist 1907 im New Yorker Little Review zum ersten Mal erschienen; die Puritaner haben ihm den Prozess gemacht.
Und überhaupt, was haben all diese Moralwächter, Methodisten, Presbyterianer, Puritaner, diese wild gewordenen Kleinbürger im »freien« Amerika und England nicht schon alles aus dem Verkehr gezogen, unter Verschluss gehalten! Man ist allzu vergesslich. Heute sprechen wir von diesen Reichen als Horten der uneingeschränkten geistigen Freiheit. Aber diesen freien Ländern, in denen Tierschutzvereine und karitative Frauenverbände im Namen der Meinungsfreiheit jeden freien Geist ankläffen durften, war die uneingeschränkte Wahrheit nicht weniger zuwider als Diktaturen. Nur haben sie schließlich doch klein beigegeben; das ist der große Unterschied.
Neue Verordnungen werden im Halbtagestakt an den Straßenecken angeschlagen; stündlich wird irgendetwas verordnet, weggenommen, befohlen. Die Behörden haben sich verselbstständigt, erlassen mit wahnwitzigem Eifer Verfügungen, schlagen tollwütig um sich.
Drei Tage lang versuche ich in Budapest zehn Zentner Holz zu kaufen und einen Schuster zu finden, der bereit ist, meinen Schuh zu besohlen. Beide Unternehmungen misslingen. Holz gibt es überhaupt nicht, für kein Geld. Später wäre ich schon zufrieden, wenn mir nur ein Schuster einen Flicken auf die löchrige Schuhsohle klebte; aber keiner ist bereit dazu. Es gibt keinen Arbeiter, kein Material, nichts.
Dieses »Haben wir nicht« ist genauso allgegenwärtig wie die Luft. Die Bäcker können nicht backen, solange sie kein Heizmaterial bekommen; jetzt überlegt man, die Gerüste an den im Bau befindlichen Häusern zu zersägen. Währenddessen lesen Detektive in Cafés und Espressos die »Zecher« auf: Männer und Frauen, die auf einen Sandwich, eine Tasse Ersatzkaffee eingekehrt sind.
Sie haben noch immer nicht begriffen, dass man ohne Moral, ohne Katharsis, ohne Läuterung nicht leben kann.
Auf dem Schiff Zusammentreffen mit X ., Professor der Medizin: die Karikatur eines in die Mittelklasse abgeglittenen Mitglieds der Gentry. Er spricht mit nasaler Stimme, schnarrt das typische kehlige »r« und ist modisch gekleidet wie ein Filmschauspieler. Ich betrachte, beobachte ihn verblüfft als eines der letzten Exemplare einer seltenen, vom Aussterben bedrohten Tierart. Natürlich referiert er über »die neuen Waffen«: das Raketenflugzeug, das mit einer Geschwindigkeit von tausend Kilometern in der Stunde fliegt und bei dem der Pilot in den Sitz »eingegipst« wird, über das Einfrieren und so weiter. Solche Wunschträume spuken jetzt in den Köpfen der Mittelklasse. Sie begreifen noch immer nicht, dass sie den Krieg verloren haben und dass die Niederlage nichts mit einzelnen Waffengattungen, sondern mit den Kräfteverhältnissen auf der Welt zu tun hat.
Das deutsche Militär hat Leányfalu besetzt. Die Truppen formieren sich um Budapest, bereit, gegen die Stadt vorzugehen, falls die Regierung um einen Waffenstillstand ansucht. Militärfahrzeuge, Panzerabwehrkanonen warten an der Landstraße. Es sind ganz junge Burschen; sie stehlen Holz, Hühner, Obst, in
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