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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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die wahre Geschichte der Menschheit schreiben: wie aus all der Kraftanstrengung auf dem Umweg über einige Dutzend Weltkriege und Völkerwanderungen ein Bild, eine chinesische Vase, eine Bachsche Fuge entsteht?
    Ein Holländer, ein Belgier, ein Schwede wissen, wohin es geht, während sie durch diesen stinkenden, blutigen Tunnel kriechen. Ich als Ungar weiß es auch, und gerade darum habe ich Angst.
    Der Politiker wird Rechenschaft verlangen und neu organisieren, der Erzieher versuchen, die Grundbedingungen menschlichen Zusammenlebens in den Seelen zu verankern; und das ist auch nötig und nützlich.
    Doch das alles ist zu wenig und hilft letztlich nicht. Vielleicht die Dichter. Vielleicht meldet sich eines Tages ein Schriftsteller zu Wort und spendet den Menschen für eine Weile wieder Kraft für die große Aufgabe des Zusammenlebens; und nicht nur dafür. Davon hängt alles ab. Paulus war – in einem ähnlichen historischen Augenblick wie jetzt, beim Übergang von einer Kultur, einer Weltordnung, einer Lebensform zu einer anderen – ebenso eine Quelle solcher Kraft, wie es später Dostojewski, der andere Epileptiker, für sein Volk war. Ich warte auf einen Menschen, der auf den öffentlichen Plätzen zu singen beginnt; die Menschen halten inne, hören mit der Phrasendrescherei auf und begreifen, dass es sich hier um etwas anderes handelt.
    Worum handelte es sich? Um eine Spontaneität, die der Liebe entspringt.
    Chestertons kurzer Essay über den heiligen Franziskus lehrt uns, dass man ohne Höflichkeit kein großer Heiliger sein kann. Der Mensch kann nur nach menschlichem Maßstab ein echter Heiliger sein. Und am größten ist der Mensch stets dann, wenn er seine Ungeduld besiegt und höflich ist.
    Dieser himmlische Troubadour, Freund der heiligen Klara und Bräutigam der heiligen Armut, sprach Gott, das Weltall, die Vögel und die Fische nicht nur persönlich an – und schon das ist viel –, er sprach Gott, das Weltall, die Vögel und die Fische höflich an. Er hatte recht: Um ein echter Mönch, also ein Prophet, ein brennender Dornbusch zu sein, bedarf es keines Klosters, keiner Regeln, keines Gelübdes. Nicht einmal eines heiligen Lebens. Nötig ist nur, dass man sich irgendwann aller inneren Verpflichtungen, denen man ohnehin nicht nachkommen kann, entledigt und sich höflich und mit wesentlichen Worten an Gott und die Welt wendet. »Nur« das ist nötig. Und ein heiliger Franziskus.
    Die Russen in Újpest und Kispest . Am Vormittag begebe ich mich nach Tahi. Der Novembersonnenschein ist mild und sanft, wie frühherbstlicher Zauber. Ich gehe im duftenden Sonnenschein den Fluss entlang. Unweit von mir dröhnt Geschützfeuer, auf der Landstraße rasen riesige deutsche Kanonen in Richtung Újpest, an die nahe gelegene Front. Aber hier am Flussufer herrscht auch während des Geschützfeuers tiefer, versöhnlicher Frieden.
    Viele Menschen sind auf der Margaretenbrücke umgekommen , überfüllte Straßenbahnen ins Wasser gestürzt, vielleicht bis zu tausend Menschen ertrunken; wir werden es nie sicher wissen. Ich denke an das Schicksal der Figuren in The Bridge of San Luis Rey . Aber wie man es auch dreht und wendet, es bleibt ein ganz elender Tod.
    Nicht die Armut ist die schlimmste Strafe, nicht einmal die Krankheit, das körperliche Leiden. Die schlimmste Strafe ist, wenn uns das Schicksal mit gemeinen, niedrig gesinnten Menschen zusammensperrt und zwingt, unsere Tage mit ihnen zu verbringen. Das ist die schlimmste Strafe. Solche Leute findet man meist unter den Proleten.
    Arme Leute sind gewöhnlich viel rücksichtsvoller, feiner, großmütiger im zwischenmenschlichen Umgang als der Pöbel.
    Das Radio spricht von Kaschau als einem »Verkehrsknotenpunkt«.
    Diese Bestimmung macht mich stutzig. Kaschau war für mich Geburtsstadt, Erinnerung, Romansujet, Dramenhintergrund. Das alles war wirklich. Dass es eines Tages in einem deutschen Kriegsbericht zu einem Verkehrsknotenpunkt werden könnte, wäre mir nie eingefallen. Das hat etwas Unwirkliches.
    Die Briefe Schillers und Goethes an ihren Verleger Cotta. Schiller überredet Cotta, die Propyläen des gerade aus Italien zurückgekehrten Goethe herauszugeben. Die Veröffentlichung verspräche zwar keinen großen Erfolg – schreibt er –, dennoch sollte ihm Cotta tausend Reichstaler bieten in der Hoffnung, später einmal das Manuskript mit dem Titel Faust zu bekommen, von dem sich Schiller einen schönen Geschäftserfolg erhofft …
    Der Mensch ist irgendwie

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