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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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schwarz-verrußt – das ganze Land ist ruiniert (nirgendwo auch nur 3.klassiges Essen zu bekommen, so im Ex-Stasi-Palais «Villa Bellevue», ein geschmackloser Hermann-Göring-Kasten über der Elbe mit Couch-Garnitur-Komfort).
    Meißen ein Schock – eine Stadt, in der die Häuser zu 80 % verfallen, nur die herrlich strenge frühgotische Kirche «erhaben».
    Dresden: Gemisch aus Fußgängerzone, versunkener Villenpracht am «Weißen Hirsch», brutalem Neubau und «Resten». Trostlos.
    Gemäldegalerie großartig – am schönsten die seltsam-blassen Farben des Dürer-Altars und die ebenso seltsame, fast kokette Munterheit der Cranachs. Neu-Zeit-Sammlung grauslichanorganisches Gemisch: Kolbe, aber kein Seitz, Strempel, aber weder Penck noch Richter noch Baselitz. Heartfield scheint überhaupt nicht zur DDR-Kunst zu gehören? Wieso? Dann bitte auch Brecht nicht!
    Hotel Elephant, Weimar, den 4. August
    3 Weimar-Impressionen/Emotionen überlagern sich. 1. Hierher war die schönste, zitterndste, glücklichste Reise meines Lebens, strahlend-selig (und voll sexueller Begierde ohne Ende): vor ca. 40 Jahren … 2. Ich wußte/erinnerte mich nicht, wie klein das alles ist: das Goethehaus mit seinen Kämmerchen (und Gipsbüsten); die Gartenhaus-Puppenstube; das «Wittib»-Haus von Anna Amalia (zwar verglichen mit Goethes großzügig – aber im Vergleich mit französischen Verhältnissen ridicule ); das Schillerhaus – wie winzig die Entfernungen, man wohnte ja buchstäblich ein paar Schritte voneinander (und schrieb sich dennoch Briefe?!).
    3. Die Empörung über das Verbrecherpack, das diese Städte, das ganze Land so total verkommen ließ.
    Hôtel Lutetia, Paris, den 9. August
    Lächerlicher Auftakt und absurder Beginn der Paris-Tage. Beim (traditionellen) Frühstück im Deux Magots sitzt neben mir Francis Bacon, mit dem ich dann Tee trank, klönte – während neben uns 1 Stunde lang ein angemaltes Fotomodel fotografiert wurde. Er nicht.
    Herrlich wieder Cioran am Telefon (esse heute mit ihm zu Abend), er sei vergangene Nacht «etwas wahnsinnig» geworden, habe gedacht, die Welt sei endgültig untergegangen – was ihm großen Schreck eingejagt habe!!! – oder er sei blind geworden, weil er nicht begriffen hatte: Es war die Schwärze der Nacht.
    Den ganzen Nachmittag mein Gespräch mit Breyten Breytenbach, aufregend-interessant; auch «aufreizend», weil er sich kokett vor einem auf einem Polster wälzt, zeigend, «was er hat», von seinem Idol Pasolini erzählt und eigene Ölbilder von Männern mit Riesenschwänzen zeigt: une folle qui s’ignore . Aber ich mag ihn, und man kann sich stundenlang gut mit ihm unterhalten.
    Hôtel Lutetia, Paris, den 11. August
    Die «geschlossene» Stadt: kaum ein Geschäft, vor dem nicht die Rolläden hängen; in den paar, die geöffnet haben (oft mit leeren Schaufenstern), mürrische Bedienung wie in allen Restaurants, vom Récamier zur Closerie des Lilas.
    Die kleinen Metallstühlchen im Jardin du Luxembourg (wo Teil II meines Breytenbach-Gesprächs stattfand) sind eine Marter. Meine Sinnlichkeit, Neugier, Aufnahme- wie Abgabebereitschaft ist durch so ein stundenlanges Gespräch erschöpft (gar meine Sexualität? Auch da «un-wach»: Verbraucht das Hirn die Eiweiß-Substanz??). Kaum Lust auf Museen. Die von billigsten Bus-Touristen verstopfte Stadt. Mir sind die Shorts- und T-Shirts-Träger mit ihren ewigen Flaschen und Büchsen vorm Hals oder der ewigen Eiswaffel ein physischer Graus. Hassenswert in ihrer Dummheit.
    20. August
    Schrecklicher Besuch des chinesischen Tucholsky-Stipendiaten bzw. schrecklicher Bericht: Von der 1 Milliarde Chinesen sind 800 Millionen Bauern, also dumm und uninteressiert an «geistigen» Dingen; aber von den 800 Millionen sind auch noch mindestens ein Drittel Analphabeten. DAS hat also dort der Kommunismus «geschafft». Ein Professor verdient 150 Yen, aber eine Zeitschrift kostet 3 Yen – also ist sie unverkäuflich, einflußlos, ungelesen. Drei Generationen einer Familie leben in einem Zimmer (aber ein Bonze baut sich für 2 MILLIONEN Yen einen Palast). Zwar ist Reis billig und die medizinische Versorgung umsonst, aber Bücher nicht zu bezahlen, Fernseher und Telefon auch nicht, Zeitungen drucken immer dasselbe Partei«chinesisch», und Schriftsteller können nicht nur nicht leben von ihrer Arbeit, sondern leben in «Einheiten». Mein Gott, was für eine Verbrecherwelt.
    Flug Nürnberg – Hamburg am 26. August
    Komisch-beeindruckend Hochhuths

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