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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Mecklenburgs, hier im Hotel «über» der grauen, in opalenem Nebel verschwimmenden Ostsee, fast 800 Kilometer durchs Land, jeder Ort – ob Ahrenshoop, ob … – ein Stück Biographie-Erinnerung.
    Hotel Neptun, Warnemünde, den 11. Juni
    Zurück aus der DDR, die’s nicht mehr gibt. Da ist einmal die betörend schöne, ganz «heile» mecklenburgische Landschaft, Johnsons «Fischland», mit den Seen, den alten Häusern, den «verwittert» aussehenden Menschen, dem rasenden Gischt-Schaum des blühenden Raps; den Fliederkaskaden, der weiträumigen Stille. Da ist zum anderen das Verloren-Verkommene, das Nicht-Telefon, das schreckliche Essen, der lächerliche Kampf ums Bestellen «heimischer» Produkte (Bier, Korn – man kriegt immer zuerst irgendeinen westlichen Mist angeboten, und selbst der Zucker zum Kaffee muß aus Bayern –!! – sein). Da ist die mecklenburgisch schweigende Verzweiflung der Menschen, die stumm vor ihren leeren Strandkörben warten, die in ihren Kuttern – «Räucherfisch-Imbiß gratis» – warten, und keiner kommt zur Hafenrundfahrt. Da sind die grauenhaft ameisigen Vertretertypen, die mit goldenen Siegelringen an den Fingern am Frühstücksbuffet rumwedeln, tagsüber übers Land schwärmen und armen Bauersfrauen Marmorklos andrehen – und abends sich einsam an der Bar besaufen.
    Und da war die Doppel- oder Dreifach-«Fotografie» der ganzen Reise auf dem Johnson-Negativ. Dieser um die Ecke denkende Dickschädel war auf schmerzliche Weise präsent – bis hin zu dem mir indiskreterweise gezeigten Abituraufsatz, der erschreckend linientreu war (irgendwie nicht in Ordnung, daß dieser Englischlehrer, den ich in Güstrow besuchte, mir den zeigte und mir gar kopiert schicken will – sie sind alle auch ein bißchen heimtückisch – und wenn’s die Masseuse im Hotel ist, die erst «richtig» zu massieren begann, als sie merkte, daß ich Anteil nehme am DDR-Schicksal: Sie sprechen alle noch von «unser» und «ihr»). Sie fühlen sich wie annektiert, eindrücklich die Scene, wie Bauern am Rande der Autobahn sich dickschädelig starrend auf ihre Spaten stützten und stumm eine Kolonne – hochfein-technisierter – Bundeswehr vorbeibrausen sahen: Man spürte, daß sie «die da» dachten, daß es für sie eine fremde Besatzungsmacht war, die da reich und perfekt durch «ihr» Land fuhr. Die Russen – andersrum. Der Graben ist sehr tief geworden – das ist nicht eine Nation, sondern ein Währungsgebiet.
    15. Juni
    Alles belastet mich, selbst die verrückt-freundschaftlichen Endlos-Telefonate mit Brasch, der eben noch «unbedingt Berlin verlassen» mußte, eine Art «Tagung» mit mir und Inge Feltrinelli abhalten wollte, um seine – italienischen? – Zukunftspläne zu besprechen – – – und um mir eine Woche später zu sagen, das sei nur eine törichte Panik gewesen, er wisse genau, daß «Weg» noch kein Ziel sei. Und wohin, wisse er nicht.
    Lustig-naiv auch, daß er allen Ernstes meinte, bei solchen «Planungen» könne/würde Inge hilfreich-nützlich sein. Ich mußte ihn stoppen – sie erzählte mir schon, rasch und abwehrend, daß sie nicht die Beichtmutter für Herrn Brasch sein könne und wollte, daß er sie «andauernd» (er: einmal) anriefe. Er hatte ernstlich gemeint, er könne von ihr «lernen», wie man als Deutscher ins Ausland ginge und dort lebe – was ja in ihrem Fall durch die Heirat mit einem – auch noch intelligenten und politisch motivierten – Multimillionär wirklich unter etwas anderen Umständen geschah …
    Oder ist er doch so stark unter Kokain, daß er eben mal tänzerisch-eloquent und mal bramarbasierend-geschwätzig-sentimental-trotzig redet? Peter Schneider erzählte mir bei Hochhuths 60. in Berlin, man müsse sich Sorgen um Brasch machen, er «hinge an der Nadel» (was wohl mehr die «line» ist), und wenn man sich befreundet fühle, müsse man mit ihm reden. Glaube, daß so was nicht geht. Wer will schon vom anderen die Wahrheit über sich hören – zumal er dann leugnet, Koks zu nehmen (aber Bondy es Schneider bestätigt hat, daß er «stets» das Zeugs nimmt). Warum tun die das eigentlich? Was hat man davon? Mir ganz unklar. Ich habe diese Art der «Selbsterweiterung» nie gewollt und nie gebraucht.
    19. Juni
    Vorgestern (!! also an «meinem» 17. Juni …) bei Kempowski, dessen unermeßlich großes – und verwinkeltes – Caligari-Haus mich nicht nur gruselt (ich wußte buchstäblich momentan nicht, war ich in diesem Raum schon gewesen oder wie kommt

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