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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Erwünschte, und nicht immer nur dem trivialen. Wein, Weib und Gesang, diese Verbindung löst sich, die Flasche hält länger vor.»
    Wie entsetzlich wahr.
    7. August
    Ansonsten zunehmend entgeistert bei/nach der Bloch-Lektüre; wieviel Geröll, Geraune, Unpräzises und Falsches, wieviel politisch Fahrlässiges und Geducktes, wieviel Bla-Bla-Seifenblasen, die schillern, aber leer sind.
    20. August
    Tag (Tage) der beunruhigenden Introspektion. Gestern, knapp 1 Woche nach dem Mauerbaudatum, wurde Gorbatschow gestürzt, und in Moskau rollen die Panzer (und die Börse kracht …); am Sonntag, also den Tag zuvor, las ich noch Ruthchen aus meinem Roman – und zwar die Mauerbau-Scene (ich hatte sie als Geschenk zu IHREM 60. zum Wochenende eingeladen) – ein Besuch nach Jahrzehnten, sie war mir nah und ängstigend wie zur Zeit unserer Jugendliebe, und ich fragte mich, unlogisch, beim Betrachten der Fotos ihrer Kinder, wie die wohl nun aussähen, wenn sie VON MIR WÄREN, ein bißchen genauso, da ja von ihr, und eben ein bißchen anders, da von mir: Wie schluchtentief doch der Abgrund Sexualität ist. Ruths Bruder Georgi hat das krebs-hemmende Medikament abgesetzt – begeht also Selbstmord auf Raten –, weil er seine Libido nicht einbüßen will; absurd bei einem 60jährigen. Und wie in dem alten Reinigungszwang (ich ging ja oft, nachdem ich mit einer Frau geschlafen hatte, noch «los») ging ich Sonntag nachmittag in die Sauna – um nun in den nächsten Abgrund zu blicken. Ich beobachte auch einen unglaublich hübschen, ganz jungen, wunderbar gebauten Mann, vielleicht Mitte 20, der sich wie in ein ekliges Krötennest fallen und im Dunkelraum von ca. 6 uralten, schlabbrigen, sabbrigen Hängebauch- und Faltenarschgreisen betatschen, blasen, sogar küssen läßt, seinerseits wahllos ihre schlaffen kleinen Altmännerschwänze befingert und es sich wahllos von irgendeinem der bleichen Schleimtunten «besorgen» läßt. Ich hätte mich fast übergeben.
    22. August
    Wolfgang Hildesheimer stirbt. Werde ihn vermissen, seine lustige Traurigkeit und seine lakonischen Kärtchen. Er hatte etwas Jüdisch-Tieftrauriges, was mir sehr nahe ist – und was, wie man weiß, gute und «komische» Literatur schafft. Ich liebte seine Bücher, aber ich liebte auch den Mann sehr; nun ist’s wieder einer weniger: Man kann garnicht sein Adressenbüchlein so rasch ändern, wie die Weggefährten sterben. Aufheben hätte ich die alten sollen mit den Adressen und Telefonnummern von Dutschke oder der Meinhof, Fichte oder Baldwin, Johnson oder Weiss, Böll oder Fried. Und es waren ja auch alles, so oder so, «Gesprächspartner». Älter werden heißt auch verstummen.
    Und kälter und einsamer werden.
    26. August
    Gestern (Sonntag) Landpartie in Richtung Gorleben, wo im und nebst dem idyllisch gelegenen Sitz von Uwe Bremer in Gümse ein Schriftstellertreffen war. Ich fuhr aus dem vermutlich gleichen Grunde hin wie die Darsteller: um mal für ein paar Stunden aus der selbstgewählten Einsamkeit auszubrechen. Nur: Nach ein paar Minuten ist einem auch das wieder zuviel, ein «Hallo, wie geht’s denn» und «Mein Gott, was ist das schön hier» genügen einem bereits – dann will man schon wieder flüchten.
    Typisch, daß der eben erst aus USA «re-emigrierte» Lettau, der dort in einem ehemaligen Plessen-Haus wohnen wird (wie mühelos die immer alle ein Dach überm Kopf finden …), genauso reagierte und sich ob der Nähe der zu vielen anderen (Schriftsteller) schüttelte. Er war herrlich-skurril wie immer, jeder Alltagsvorfall wird bei ihm ja zur Katastrophe (ein Wespenstich auf der Nase seiner Frau: ein «antisemitischer Angriff – ich habe das Hakenkreuz auf der Stirn der Wespe deutlich gesehen») – woraus ja wieder seine Stahlstich-Literatur lebt, von der er köstliche Scenen trauriger, ja melancholischer Bigotterie las. Im Abstand die avancierteste Literatur.
    31. August
    Lufthansaflug Hamburg – Erlangen.
    Der «subversive Dandy» fliegt zum Poetenfest; so nannte mich heute früh Lettau, dessen Pinzetten-Hirn die sonderbarsten Details aufbewahrt: Ich habe, vor ca. 20 Jahren, bei einem gemeinsamen Besuch mit ihm und Böll bei Marcuse in La Jolla mitten in einer hochpolitischen Debatte erklärt, ich müsse nun gehen, nämlich zur Pediküre; und Böll habe gesagt: «Aber da schneidet man doch einfach drauflos.» Schade, daß ich die eigenen Anekdoten (i. e.: die über mich) nie aufgeschrieben habe, es kursieren Hunderte …
    1. September
    Die

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