Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
doch Wunderlich sein Leben arrangiert, «macht». Der Abend letzten Freitag wieder ein Hochgenuß – er kann eine neue Majorelle-Vase, die Fasanenpastete oder den Bordeaux genauso genießen wie das Gespräch. Er entwirft mit derselben Eleganz Schmuck für Karin (unglaublich schön, Lalique alle Ehre machend …) wie Rede- und Denkfiguren. Das Gespräch, ob über Genscher oder Julien Green, hat nie Pause.
29. April
Ein prunkvoller Frühlings-, gar Sommerbeginn (mit Tulpen, Narzissen, Kaiserkronen und den ersten Azaleenblüten im Garten, mit den ersten aufgesteckten Kastanienkerzen und Fliederblüten allenthalben) bringt lauter kleine «Enden»: Gestern habe ich mir meine «Seniorenkarte» für die Bahn gekauft. (Gott sei Dank sagte die nette Verkäuferin: «Für wen ist die? Doch nicht für Sie? Sie müssen nämlich 60 sein.»)
Kein «Ende», eher ein «Anfang», jedenfalls aber ein Kuriosum war respektive ist Wunderlichs bizarres Mitbringsel neulich abend: ein Abzug jenes Fotos der «Richthofen-Staffel», auf dem sein und mein Vater ZUSAMMEN abgebildet sind – die Herren haben also zusammen im Casino «gesoffen», als weder Paul noch ich auch nur «geplant» waren – damit die beiden Söhne dann Jahrzehnte später eine Lebensfreundschaft begründeten.
7. Mai
Vorgestern frappantes Gespräch mit diesem etwas undurchsichtigen Johnson-Biographen (Neumann?), der erzählte, TATSÄCHLICH HABE Elisabeth diese Affäre gehabt – vor und WÄHREND der Ehe –, an die ich nie geglaubt und immer für eine Ausgeburt der paranoischen Phantasie Johnsons gehalten habe. Was für Abgründe doch jeder Mensch in sich verbirgt …
Interessant wiederum auch, dass Frisch wirklich ihm mehrere hunderttausend Mark für den Hauskauf geliehen hatte. Daß es das noch unter Kollegen gibt (gab!).
10. Mai
Chaos-Wochenende bei Antje auf dem Lande (zur Verabschiedung von dem netten Roger de Weck).
Der Abend in seiner irren Mischung – Lettau und Bismarcks, Leute, die sich knarrend als «Hardenberch» oder «Humboldt» vorstellen, neben Journalisten – hat mir NICHT gefallen und mich zu sehr angestrengt; wie mich ja alles NUR noch anstrengt. Diese sich überschätzenden Klein-Begabungen wie Uwe Bremer (der lieb und nett sich «ranmacht», weil er eine Rezension wittert), letztlich auch Lettau, der sich von einem Preis zum nächsten Stipendium hangelt und in einem SEHR schön gelegenen Haus irgendeiner grünen Baronin praktisch UMSONST wohnt, mit Ententeich, Pferdekoppel und uralten Rosenbüschen vorm Fenster – irgendwie stört mich dieser Anspruch an die Gesellschaft, dieses selbstverständlich «Nehmende» genauso wie die schnarrenden Adligen, die einen Witz in meiner Tischrede so übelnahmen, daß sie noch beim Frühstück drüber sprachen und mich «einvernahmen», ob das ein Zitat gewesen sei: Ich hatte meine kleine lustige Rede (voller erfundener Anekdoten) beendet damit, daß es ja bekanntermaßen zwei am allermeisten ausgeprägte menschliche Eigenschaften gäbe, die Sexualität und den Neid; daß ich aber, von Gastgeberin Antje ermahnt, hier seien viele feine Leute und Adlige heute abend, nicht über Sexualität sprechen wolle, zumal man ja wisse, daß der Adel die kleinen Kinder in einer Tüte beim Apotheker kaufe … (und ich mich also auf meinen Neid auf den so vielseitig begabten Ehrengast beschränken wolle) …
Tucholsky hatte eben IMMER recht: Macht man in Deutschland einen Witz, sitzt die halbe Nation auf dem Sofa und nimmt übel. Die andere – untere Hälfte – denunziert; ganz Deutschland in EINEM Satz: Als ich, umweltbraver Bürger, neulich meine Weinflaschen in einen Container tat, hielt neben mir ein Auto: «Ich hab mir Ihre Nummer aufgeschrieben und zeige Sie an.» Ich: «??????» «Ja, Sie haben die Tüte mit hineingeworfen.»
Aber meine lieben Freunde, die Autoren, sind auch nicht anders: Kempowski ließ sich von mir die Einladungsliste zum 22. vorlesen und wußte zu jedem – von Monika Maron bis Kunert – nur zu mümmeln: Der/Die mag mich nicht, die kann ich nicht leiden, der hat nie was von mir gelesen, die ist dies, und der ist das … es war NUR von ihm die Rede – eigentlich hätte ich nur IHN alleine einladen dürfen.
Genauso spiegelverkehrt Rühmkorf, der nur maulte: «Na, hoffentlich haben Sie nicht so viele Zonenflüchtlinge eingeladen» (kann er sich ja mit Gaus in eine Ecke verkriechen …). Grass wiederum, der nicht kommen kann, konnte dieser Tage am Telefon von NICHTS als dem Unrecht und der
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