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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Deine Auftritte mit ihm, auf die Du anspielst, kenne ich nicht – ich kenne aber mein großes ZEIT-Gespräch mit ihm, das nicht nur ihm wichtig war, sondern auf das ich geradezu stolz bin: formuliert es doch, daß ich im grundsätzlichen vollständig anderer Meinung bin und doch ihm den Respekt nicht versagen mag. Du weißt nun ganz genau, daß ich «dieses Thema ganz gewiß nicht wahrgenommen» habe. Woher eigentlich?
    Du weißt sogar, daß ich «wie ein Scharfrichter durch die Gegend gelaufen» bin. Das ist, was ich am Beginn meines Briefes einen Ton nenne, der unter Freunden nicht möglich sein sollte, der bewußt verletzen soll und dem eine Behauptung zugrunde liegt, die schlichtweg der Wahrheit nicht entspricht. Könntest Du mir bitte einen, auch nur einen einzigen Beleg für den «Scharfrichter» Raddatz beibringen? Einem Mann des Wortes wie Dir mag ich nicht unterstellen, daß Du meinen Aufsatz über die STASI-Unannehmlichkeiten von Christa Wolf und Heiner Müller meinen könntest, der von irgend denkbarer Fairneß und vom Bemühen, jeglichen Hepp-hepp-Ton zu vermeiden, geprägt war; während Scharfrichter gemeinhin ja Tötungsabsichten haben. Nicht einmal Deine Wortwahl für den 17. Juni ist richtig: Im Gegensatz zu Dir nämlich war ich dort und an beiden Tagen auf der Straße und kann Zeugnis davon ablegen, daß die Demonstrationen, an denen ich – wohl eher «Volk» als «Arbeiter» – teilnahm, durchaus mitgetragen und mitgeprägt waren von Hunderten, wenn nicht Tausenden von Studenten, Bürgern, Intellektuellen. Viele Freunde und Bekannte von mir aus Verlagen und Redaktionsstuben sind danach und deswegen eingesperrt worden.
    Lieber Günter, mach Dir doch Deinen Zorn nicht so ungenau und mach Dir Deine Erregungen, wenn jemand etwas anderes denkt, als Du denkst, nicht so leicht. Ich sehe keineswegs – das weißt Du ja aus mehreren Gesprächen –, daß Deine rechtzeitigen Warnungen «mehr als bestätigt worden» sind, was den Vereinigungsprozeß betrifft. Ich sehe vielmehr darin viel rechthaberische Deklamation (bis hin zu Deinen TREUHAND-Verdikten in Sachen VOLK UND WELT, wo Du auch auf Gegenargumente mit keiner Silbe eingehst). Eigentlich muß derlei doch möglich sein, ohne daß man den anderen mit aggressiven Verdikten wie «nicht recht bei Trost» oder «unglaubwürdig» zudeckt.
    Hotel Kempinski, Berlin, den 11. März
    Luc Bondys Inscenierung des neuen Handke an der Schaubühne («Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten») war perfekt auf verletzende Weise; nicht nur, weil der Mann mit dieser Kunstfertigkeit auch das Hamburger Telefonbuch inscenieren könnte – – sondern auch, weil alles so leer ist. Geht das, ein Theaterstück ohne Worte? (also: ein Ballett), in dem die dressierten Affen namens Schauspieler zu artifiziellen Höchstleistungen getrieben werden: die aber nix «bedeuten»?
    Schon wenige Tage zuvor in Hamburg Peter Brooks «The man who» war fragwürdig – Etüden über die Körpersprache Irrer, kein Wort, nur Artistik, die sich um sich selber dreht (und in diesem Fall sich noch frivol letzend an der «falschen Bewegung» Gestörter).
    Da bin ich doch anders gebannt von dem SCHINDLERS LISTE-Film, auch, wenn ich sehe, daß er nicht allzu selten am Schmalz langschliddert und daß er genau die Tränen produziert, die nix als «Erleichterung» produzieren und bei denen man dennoch seine Eiswaffel lutschen kann. Tatsächlich bestellte man rings um mich Eis, Cola, Schokoriegel, und als ich mich empörte: «Schämen Sie sich nicht, bestellen Sie nach dem dritten toten Juden das nächste Eis?», da sagte das junge Mädchen neben mir: «Beruhige dich, Alter, ich sehe das ganz cool.» So haben ihre Eltern oder Großeltern ganz «cool» zugesehen, als die abtransportiert wurden. Ein ekelhaftes Volk.
    19. März
    Mit Grass wieder mal versöhnt, hat nachgegeben in einem neuerlichen Brief, der zwar zeigt, daß er wenig von mir weiß und versteht (wenn er in mir eine Art Ex-Kommunisten sieht, wohl eine Sorte Leo Bauer oder gar Wehner; aber ich WAR nie Kommunist, nicht nur, weil ich nie in einer Partei war) – der aber auch zeigt, daß ihm an der Freundschaft mehr gelegen ist als an Zerreißproben durch Politik.
    Nachtrag zur Romreise: mein Schock über die gereinigte Sixtinische Kapelle: Michelangelos Bilder schienen mir laut, bunt, zu heiter-frivol. WAS stimmt nun – unsere tradierten Sehgewohnheiten, die Kerzenruß und Weihrauchschmauch immer mitgesehen hatten, oder die «wirklichen»

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