Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Leben zurück: vorbei an der Wohnung im Leinpfad, dann hinten «auf dem Fluß stehend» vor dem Agnesstraßen-Haus, zurück, die Brüstungs-Böschung hochkrabbelnd hier hinein in den Wintergarten der Heilwigstraße, voller blühender Orchideen, Amaryllis usw. – – – –
Dies ist gewiß die schönste, eleganteste und großzügigste aller meiner Wohnungen: Aber der Leinpfad war heiterer, wo Damen und Herren allnächtlich sich die Tür in die Hand gaben, wo ich «VOLLE Pulle» mit meiner Arbeit bei Rowohlt identisch war, wo ich noch die Oberherren der ZEIT empfing, als sie mich engagierten, ich mich also noch einmal «volle Pulle» in jene neue Aufgabe stürzte, wo allerdings das Eckfried-Drama sich abspielte (aber, denke ich heute, LEBEN war ja auch das). Dort, am Leinpfad, schrieb ich mein MARX- und mein HEINEbuch, das KUHAUGE, meine Habilitations-Schrift, dort war noch Mary Tucholsky zu Gast und Jochen Mund, nicht zu reden von Bloch, Feltrinelli, Giese, Ledig, Baldwin, Dutschke und – VOR ALLEM – Bernd. Es waren wohl meine schönsten, wichtigsten Jahre in Hamburg – damit meines Lebens –, die ich in dieser Wohnung verlebt habe, ich brannte an beiden Enden (während ich meine «Enden» jetzt nur noch salben und einbalsamieren kann …), ich kaufte Bilder wie verrückt, ich ging aus, ich arbeitete (gut, DAS ist das einzige, was geblieben ist), dort hatte ich den ob der blauen Samtwände baffen Dutschke zu Gast ebenso wie Gabriele Henkel oder Augstein oder die Dönhoff, damals kam Leo noch verstohlen 5 Minuten NACH Petra, da saßen Fichte und Hochhuth, und dort warfen die verrückten Österreicher – Ossi Wiener und Konrad Bayer usw. – meine Picassovasen durch die Luft und schrieen: «Seht mal den Kitsch», während Chotjewitz nackt mit einer weißen Lilie in meiner Wanne und Rudi Hausner ebenso nackt, aber statt mit einer weißen Lilie mit einer seiner Studentinnen in meinem Bett lag (sie ist heute seine Witwe), Bazon Brock machte 20minütige Kopfstände, denen Siegfried Lenz applaudierte, und Brock hatte mir «signierte» Holzpantoffeln mitgebracht, die ich wegwarf, sie würden heute viel Geld bringen, denn signiert waren sie von – – – Beuys. Die schönen Knaben waren Legion, aber auch die diversen Larissas und Lindas, dort gab es reichlich «assiette-à-trois» , und dort hat Uwe Johnson Jane Ledig verprügelt. Diese Geschichte dieser Wohnung ist/wäre ein Stück Literaturgeschichte.
16. Januar
Die ganz großartige NIBELUNGEN-CD, die ich – von Wapnewski glanzvoll vorgetragen und interpretiert – an den Feiertagen auf Sylt hörte. DIE hat mich tatsächlich geradezu ergriffen, spannend wie ein Krimi, gebildet wie Shakespeare und blutrünstig wie die Nazis. Bei einem winzigen Detail merkte ich plötzlich, wie GERMANISCH ich bin: daß nach germanischem Verständnis das/ein Geschenk etwas Heiliges, und zwar auch heilig, ja: bindend für den Beschenkten, daß man etwa mit einem geschenkten Schild nicht kämpft gegen den Schenkenden und, daß es ein Treuebruch ist, mit einem geschenkten Schwert zu schlagen. Das ist bei mir – wie durch ein Sieb gerührt – dann in der Niedlichkeitsvariante gelandet, daß ich mich so sehr über «richtige» Geschenke – etwa Wunderlichs Leuchter zum Geburtstag – freue, gleichzeitig so ergrimmt bin über «falsche» wie den hingeklatschten Caviar von der Mondänen (Caviar kann sie ihrem Arzt schicken, aber doch nicht einem Freund – ? – zum 65. Eine reine Geld-Wegwerf-Geste, bestellt durchs Sekretariat) und warum ich selber so gerne schenke.
20. Januar
Er wiegt sich in der Musik ICH BIN DER VON BÖSEN REAKTIONÄREN VERFOLGTE ANTIFASCHIST, ohne mit einer Wimper zu zucken, daß ihm nun NACHGEWIESEN wurde: Er war weder im «Widerstandskampf» noch in Spanien, er war weder im KZ noch ist sein Vater in einem umgekommen; besonders ekelhaft der neckische semantische Schlenker, ja, der Vater sei nicht IM KZ, sondern AM KZ GESTORBEN: eine geradezu widerliche Wortspielerei als Rechtfertigung für eine Lüge, die ALLE, die wirklich im KZ umkamen, denunziert.
Doch interessant an der Sache ist ja nicht Hermlin und sein schamloses Sich-Winden, interessant, bedrückend ist die Doppelmoral der «Verteidiger», die bei einem Kommunisten als ruchlos anprangern, was sie bei einem «Rechten» selber praktizieren und in jedem Fall begrüßten. 6 Als de Man «entlarvt» wurde als Reaktionär und Rassist, applaudierte dem die ganze Presse – dies hier ist wahrlich schlimmer.
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