Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
existentialistischer Gegenentwurf zu Brechts PUNTILA, der abgeleitet von Hegels Herr-und-Knecht-Idee, Beckett wohl eher von Schopenhauer und Kierkegaard – – – – das wäre schon lohnend, zu untersuchen.
Ansonsten waren es wirre Tage des Jahresendes, das in gewisser Weise beschleunigt naht, weil ich ja übermorgen nach Gran Canaria fliege, also die eigentliche Weihnachtszeit «ausspare»: der nette, aber hilflose Besuch meiner Heine-Lektorin, deren «Es ist ja sehr intellektuell» gewiß nicht NUR Kompliment war; der zweifelhaft-enthusiastische Brief des Heine-Verlegers, der hinter dem Jubelvorhang über die ersten 200 Seiten doch «muß noch vertieft werden» hervorflüstert – wobei mit vertieft wohl gemeint ist «verflacht»; denn es ist ihnen zu wenig erzählt, zu viel interpretiert: Ich bin der Pfeffer, der durch die Mühle gemahlen wird.
Wobei eines interessant: Es kann gut sein, daß ich mich (falls das noch geht) ver-intellektualisiere – – – da ja mein Leben tatsächlich nur noch im Kopf stattfindet, ich mich vergnüge einzig und allein beim Denken und Schreiben. So interessiert mich auch in der Tat wenig, was Heine aß, trank, wie er sich kleidete und mit wem er (nicht) schlief, als was er wann worüber wie dachte und wann er das revozierte. Für eine BIOGRAPHIE vielleicht wirklich nicht die ganz richtige Voraussetzung.
An dieser Ver-Intellektualisierung mag auch meine häufige Verdrießlichkeit liegen, weil ich nicht begreife, wie Menschen so kenntnislos, neugierlos, interesselos durch die Welt schlendern.
Hotel Palm Beach, Gran Canaria, den 24. Dezember
Grauer Nachtrag zu 2 Sonnenwochen, die aber nicht «innen» sonnig gewesen. Für die Haut gut, für die Seele nicht: So könnte ich diese 14 Tage summieren, auch nicht fürs «Empfinden», wenn man darunter auch ästhetisches Empfinden summieren mag: so viele so häßliche Menschen, grauenhaft gekleidet, meist nackt oder halbnackt den Strand verseuchend, «Vati» schon morgens um 10 vor dem Skat sein 1. Bier kippend, «Mutti» mit Hängetitten und Rucksack: ein Graus.
Verstörend auch, fast einer analytischen Studie würdig: wieso Erwachsene, Menschenmänner zumal, den ganzen Tag nur DÖSEN können, Tag für Tag in irgendeiner Liege – entweder ordinär und billig am Strand oder «fein» und teuer am Hotelpool – liegen, Stunden um Stunden, und NICHTS tun, nicht mal lesen; WENN sie lesen, ist es DIE BUNTE oder MARIE CLAIRE, DIE ZEIT wäre schon zu anspruchsvoll, ein Buch «kommt nicht vor» – für wen schreibt man seine Bücher eigentlich, seine ZEITartikel? Sind die Menschen – von diesem wild gewordenen Kapitalismus – derart verbraucht? Sind sie – eben von dem – derart verdummt, ihre Neugier aufs Format der Mattscheibe reduziert und ihre Phantasie reduziert aufs Nachahmen von «Cocktailglas am Swimmingpool», was sie auf irgendeiner Werbefotografie gesehen haben? Oder «Sekt zum Frühstück» – wer will das?
Kampen, den 31. Dezember
Bilanz? Wohl nicht möglich.
Das EIGENTLICHE ist ja der heranschleichende – Tod: je näher er kommt, desto rätselhafter, inakzeptabler. Nun hat so ein Gehirn das alles aufgesogen, z. T. begriffen, verarbeitet (die gesamte MODERNE), hat gefragt, geantwortet, in Zweifel gezogen; hat vielleicht doch ein wenig an einige wenige Menschen weitergegeben – und dann ist es weg wie ein Ei, das auf die Küchenkacheln knallt, aus, vorbei, vergessen? Obwohl man WEISS, daß es so mit Leonardo und Picasso und Thomas Mann ging – ist es nicht zu BEGREIFEN fürs eigene Leben.
1997
8. Januar
Dieser unerträgliche Intimitätsterror unserer «Moderne»:
Der Versicherungsvertreter, der mich in Kampen besuchte, weil die Police 25 Jahre alt ist, erzählte mir doch allen Ernstes von den psychischen Störungen seiner Frau und Verbrennungen seiner Enkelkinder beim Urlaub auf Hawaii (nicht, ohne mir die Fotos der Bälger zu zeigen), und mein «Anlage»berater auf der Bank (wo ich heute großkotzig den soeben ausbezahlten Betrag des Presseversorgungswerks «in Dollar investierte», kam mir 2 Minuten lang vor wie Herr Reemtsma) erzählt mir glatt von seinen Ferien, den Kindern, daß er aber mit Freunden dort auch «ordentlich einen draufgemacht» habe. Nachdem ich auch für die Tucholsky-Stiftung mit einem großen Betrag «in Dollar gegangen» war, sagte er abschließend: «Klasse.»
12. Januar
Unersprießlicher Spaziergang übers Eis (!!): Die Alster und die Kanäle sind zugefroren, und ich wanderte mein
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