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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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sich gebührlich über Lustiges aus dem Munde des Gastgebers amüsierte, Wein und Tischgeschirr und Bilder lobte, kurzum ein kultivierter Gast war – – – – – – sich zu einer bösen, kalten Grimasse verzerrte. Übrigens auch das seines «Gegners» in dieser Sache, nämlich meines Anwalts. Als könne man nicht auch derlei ganz freundlich-zivilisiert austragen, es sind doch GESCHÄFTE, keine persönlichen Dinge?!
    Nachtrag zu Tucholsky: Ich hatte ja gewünscht, daß der «Kurt Tucholsky» getaufte Zug nach Sassnitz «ausgestattet» wird (was auch, auf Kosten der Stiftung, sehr schön gelang) UND daß ich eine Art Jungfernfahrt mache, wo ich den Fahrgästen erkläre, um wen und was es sich handelt, und wollte an die Passagiere Taschenbücher verschenken.
    Nach endlosen Verzögerungen (JETZT weiß ich auch, warum) und Hin und Her stellt sich heraus: Der «Zug» besteht AUS EINEM WAGGON, und der hat fast nur Rucksacktouristen als Passagiere.
    Grand Hotel Europe, St. Petersburg, den 5. Mai
    Schafft Schönheit Angst? Traurigkeit gewiß – war selbst vom (allerdings perfekten) «Schwanensee»-Kitsch ergriffen. Aber Angst? Jedenfalls schien mir dies eine der schönsten Städte der Welt; die einzige, die ich kenne, die quasi perfekt erhalten ist, vergammelt zwar zum Teil – aber ein vollkommenes architektonisches Ensemble ohne einen einzigen Bilka- oder Parkhochhaus-Bau, nur Paläste, Jugendstilkaufhäuser, sämtliche Straßenzüge in weiten Schwüngen die Kanäle entlang in erhaltenen (wenngleich oft reparaturbedürftigen) Fassaden; und wenn neu aufgebaut – immerhin haben «wir» 70 % der Stadt zerstört! –, dann «gefälscht» alt, also nach den alten Plänen. Eine Augenlust, mal erhaben-dramatisch wie beim Winterpalast, Marmorpalast oder den Kathedralen, mal «normal» als Wohngebäude (deren Inneres man wohl besser nicht kennt).
    Und nun jede Nacht Alpträume schwerster Art! Einen wahren Katalog zum Abhaken: die 1. Nacht Gewalt, Vergewaltigung brutalster Art (der Schwester), Panik, körperliche Verletzung.
    Die 2. Nacht Geld, Haft (dabei habe ich wahrlich mein bißchen Geld verdient, jedenfalls war ich meine Ersparnisse los).
    Die 3. Nacht meine Schriftsteller-Existenz, Verwicklung in einen Uwe-Johnson-Skandal, in ominöse «Vor-Ihnen-wurde-immer-gewarnt»-Drohungen, Erpressungen.
    Die 4. Nacht war’s der Journalist, Gefährdung meiner Reputation wie meiner Position.
    Nur die letzte Nacht, ich hatte mit 1 ganzen Flasche teurem Champagner «Abschied» gefeiert, blieb ruhig – bei leicht-erotischen, «angenehmen» Träumen (no sexy Russians!) .
    Verwirrend diese Nacht-Blasen, wo ich sonst so heiter gestimmt die Stadt, das Museum, die Dostojewski- und die Puschkin-Wohnung genoß (beide übrigens bedrückend bescheiden verglichen mit dem luxuriösen Komfort, den little unsereins sich glaubt leisten zu müssen; noch mehr die Dachbude der Achmatowa).
    Alles war so leicht, so schön, ohne Hast (auch das Essen gut) – und in mir dieses Beben. Oder hat es mit dem Ticken der ablaufenden Lebensuhr zu tun, das ja nicht zu überhören (und dessentwegen auch ich mir Geldausgaben leiste, die «eigentlich» zu hoch; nach der Devise: «Wie lange, wie oft noch – wann, wenn nicht jetzt?»).
    18. Mai (Pfingstsonntag)
    Bequemer, und damit doppelt beunruhigender, Besuch bei Günter Grass, wieso der Widerspruch?
    Zum einen war der kleine «Ausflug» in dieser Jahreszeit betörend schön, die gelben Rapsfelder leuchteten schneidend in den Horizont hinein, auf seinem herrlichen Grundstück blühte alles, die Wald«wand» prunkte im Maiengrün, der Kanal lag als Silberband uns zu Füßen, während wir im kleinen neuen «Pavillon» saßen; Gerd hatte, überflüssig zu sagen, NATÜRLICH keine Kamera dabei – selbst Grass sagte: «Schade, das wäre ein hübsches Foto.»
    Beunruhigend dann aber, weil er die Welt nur noch nach seinem vorgeformten Raster wahrnimmt, ausschließlich, wie sie sich ZU IHM verhält; so ist nicht nur die GESAMTE deutsche Literatur-Kritik «von Haß beseelt – sie hassen Bücher; alle», sondern auch generelle Probleme «weiß er», stellt nie etwas in Frage, sich schon gar nicht. Ich erzählte beispielsweise von meinem Gespräch/Interview mit Mme. David, Documenta-Chefin, und dessen 2 Positionen immerhin diskutierbar/erörterbar sind: meine, die den «Rummel» und das Multi-Kulti-Chaos ablehnt, sich wehrt gegen den gigantischen Kultur-Zirkus und sich damit dem Schweigen des Kunstwerks verweigert –

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