Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
wohl?? Man kann auch Brechts boshaftes «um so schlimmer für die Angeklagten» über die ihre Unschuld Beteuernden der Stalin-Prozesse umkehren: um so schlimmer für die «Nichtswissenden»; denn sie WOLLTEN nichts wissen.
18. April
Oster-PS:
Der beunruhigende Irrtum eines «Chefs», man könnte/dürfte mit einem «unter ihm Stehenden» befreundet sein. Roger de Weck rief mich kurz vor den Feiertagen an, seine Frau sei in Hamburg und ob man sich nicht mal … (wobei er zu Recht voraussetzt, daß ich Madame sehr gerne mag, schätze; und wohl zugleich voraussetzte, daß die ins Wackeln geratene Ehe zwei «neutrale» Stunden gut vertrüge). So lud ich zu einem Karfreitag-Nachmittag-Champagner, was auch wirklich zwei sehr angenehme, heitere, ernsthafte (natürlich über die ZEIT) und intelligente Gesprächs-Stunden wurden. Nur: Was soll das? Morgen muß er mich eventuell entlassen, in 1 ½ Jahren «darf» er mir den Vertrag verlängern (wobei ich nicht mal weiß, ob ich’s überhaupt noch will) – oder auch nicht. Es ist letztlich derselbe Irrtum, dem sich ein SPIEGEL-Redakteur Karasek hingab, der meinte, weil er mit Augstein nachts gemeinsam loszog, sei er … Irgendwann kurz vor seinem Tod (von dem man bis heute nicht weiß, ob’s nicht Selbstmord war) hat ein anderer SPIEGELknabe namens Schultz-Gerstein in einem Artikel beschrieben, wie das ging: erst «befreundet», dann irgendeine Sex-Kumpanei, dann die Begehrlichkeit des Chefs nach seiner Frau – – – und dann die absolute Unmöglichkeit, über das Sekretariat noch zum «Chef» überhaupt vordringen zu können. Wie sonderbar, daß diese Distanzen nicht mehr gelten. So würde wohl heute niemand mehr verstehen, daß und warum ich NIE in denselben Hotels wie Ledig-Rowohlt abstieg, wenn wir gemeinsam unterwegs waren. Ich fand, es gehörte sich nicht.
Hotel The Pierre, New York, den 21. April
New Yorker Notizen. Ich überlege (zum x-ten Mal) vor dem Rockefeller Building, wie beunruhigend dünn die Grenzen zwischen Art déco, Nazi-Architektur und stalinistischer Kunst sind, weil wohl allem zugrunde liegt die Hybris: «Der Mensch kann alles», mal inkrustiert als Pilot, mal als «Bauer», mal als «Arbeitsmann»; der Sieg der gottesstürmerischen Technik allemal.
Vormittags Interview (in seiner studentenbudenhaft-entsetzlichen New Yorker Wohnung, wo mir nicht mal ein Schluck Wasser, geschweige denn ein Kaffee angeboten wurde) mit Arthur Miller: noch immer ein sympathischer Hüne; aber ausgebrannt – eigentlich ist das «Interview» eine Hochstapelei, er hat nichts gesagt, was ich nicht schon allenthalben von ihm irgendwo gelesen habe.
Das alte Lied – wir werden alle zusammen älter –, so auch der resigniert-mürrisch-zynische Roger Straus, der amerikanische Suhrkamp, den ich nachmittags sah; so haben wir uns eigentlich nichts mehr zu sagen.
Miller ist – glaube ich – nicht wirklich intelligent; er hat sein Leben lang dasselbe gedacht, «he had convictions» – aber sich nie ändern heißt ja auch, sich nie zu entwickeln. Wieviel aufregender ein Thomas Mann, Aragon, Enzensberger, die ihren früheren «convictions» dann widersprachen. Bei Miller ist alles lieb, plan, sympathisch – und ein bißchen langweilig.
Metropolitan-Museums-Tag mit meinem Lieblings-Tick: direkt von Tiffany im «American wing» durch die fast verborgene Tür zu Vermeer (was sie «picture» statt «painting» nennen!?!). Dürer, Holbein, Cranach, Tizian, Fragonard – alles nochmal nach der Flick-Collection, fast mein Lieblingsmuseum.
Spätnachmittags Drink (ich: tapfer Orangensaft) bei Jean Stein, der letzten Faulkner-Geliebten: reich durch irgendeine Warner-Brothers-Verwandtschaft, hausend in einem Adler-Horst-Penthouse über dem East River (gehörte einst Mrs. Vanderbilt), auf geschmacklose Weise geschmackvoll eingerichtet, bemerkenswert: Kunst – außer 3 – 4 Giacometti-Zeichnungen – garkeine, alles etwas drapiert und arrangiert wie die künstlich-hilflose Dame des Hauses, die mit Kinderaugenaufschlag «Oh, Paul, how sweet!» zu ihrem Butler (in Tennisschuhen und Jeans!) sagt, wenn er ihr das Glas Wein bringt, das sie bestellt hat. Eine Kunstblume im Gewand und Gestus der unter Reichen neuerdings beliebten arte povere , deren Inscenierungsschleier ich am liebsten mit einem brutalen «Wie war Faulkner im Bett?» zerrissen hätte.
Hotel The Pierre, New York, den 23. April
Amüsant die giftig-bösartige Susan Sontag, die hier 2 Stunden zum Frühstück war – 2
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