Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Stunden Galle über alle und alles: Jean Stein eine «Salonière», Enzensberger «disgusting», Bob Wilson ein «couturier», Grass nett, aber dumm, Paul Auster ein schlechter Schriftsteller, Arthur Miller anständig, aber unbegabt und vergessen, Toni Morrison eine geldgierige Zynikerin. Es bleibt nur eine: Susan Sontag. Dennoch witzig, jüdisch-new-yorkerisch-schnell, befreundet tuend (eher vermutlich meinen Namen mit einem d schreibend).
Schön-trauriger Abschieds-Abend mit 1 Glas Champagner (und wunderbarem Eck-Tisch) im Rainbow-Room; der unwirkliche Blick auf diese unwirkliche Stadt: Ob’s wohl mein letzter Besuch da war? Vorher noch zum Drink bei der reichen arte-povere- Dame, die «Gäste» geladen hatte, von denen aber nur 3 ½ gekommen waren, darunter ein gräßlicher präpotenter türkischer Schriftsteller, dessen Name eher unbekannt (mir ganz gewiß), der sich aber wie ein Star aufspielte und seufzte: «Ich mußte durch 10 Städte zu Lesungen, my publisher wants to push me.» Der Arme. «Going» rasch, nachdem ich zwei von den kleinsten Kanapees der Welt genommen hatte, so winzig, daß man vorher zum Zahnarzt muß – hätte man auch nur ein mikroskopisch kleines Loch im Zahn, diese ’hors-d’œuvres verschwänden darin. Sauste mit einer arte-povere- Limousine ins Theater, wollte O’Neills LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT … sehen, das mir mit der Bergner und Ernst Deutsch unvergeßlich. Scheint als Stück zu halten – nur waren die Schauspieler und die Inscenierung so unvergleichlich schlecht(er).
9. Mai
Vorgestern Gerds 50. Geburtstag.
Gestern Abendessen mit Kempowski, der wohlauf, keine Spuren seines Schlaganfalls, witzig-verschroben wie immer («Bitte Salzkartoffeln mit Petersilie und keinen Wein» zum Oberkellner im Vier Jahreszeiten), der weitere Bände des ECHOLOT und einen großen Roman fertig hat, der zugleich ein abstruses Verhältnis zum Geld hat – so leistet er sich einen Assistenten/Chauffeur (dem er übrigens Anweisungen gibt, wie er wünscht, fotografiert zu werden, und was er wünscht, daß der Mann «für die Nachwelt» notiert) – – – aber leisten tut es in Wahrheit sein Verlag; denn von den DM 5000 monatlich, die der arbeitslose Germanist erhält, zahlt Kempowski ihm ganze DM 500!! Bewundernswert.
Bewundernswert aber auch nach wie vor sein Gedächtnis, er ist eigentlich mehr Gedächtnis-Steller als Schrift-Steller: So wußte er bis ins Detail genau die unendlich weit zurückliegende Situation zu schildern, wie in Berlin die «Memorabilia» der Gruppe 47 versteigert wurden. Aschenbecher, die Glocke, mit der Hans Werner Richter die nächste Lesung einläutete, usw. – – – und zwar war ICH der Versteigerer, der mit einem Zylinder auf einem Stuhl stand und die Gebote von Höllerer oder Hildesheimer oder Grass entgegennahm; Grass habe – so Kempowski – gegrummelt wegen des «Unernstes» der Sache.
Mit derselben Akribie, bis hin zur Tischordnung – «Und ich hatte als Tischdame die schwerhörige Frau Hildesheimer, grauenhaft!» –, konnte er die erste «Tafel» schildern, die ich vor ebenso unendlich zurückliegender Zeit auf der Frankfurter Buchmesse zusammengetrommelt hatte, um zum ersten Mal Madame Gabriele Henkel in die Welt der Literatur einzuführen (was ja auch George Weidenfeld in seinen Memoiren schildert); Kempowski wußte, ob Enzensberger dabei war und Peter Weiss, oder: «Nein, … ich glaube, der nicht», ob Böll oder, oder, fast wußte er noch die Speisenfolge – in jedem Fall beschrieb er aufs Köstlichste die lustig-sonderbare Situation, wie der freche FJR da die «berühmte» Salon-Dame hoffähig zu machen suchte; damals war sie noch angemessen bescheiden, prätendierte nicht, dasselbe zu sein wie ihre Gäste. Lang, lang ist’s her.
Kempowski erzählte mir auch Hoch-Absonderliches aus seinem Privat-/Intim-Leben (das ich hier eigentlich notieren wollte, aber nexten Tags kam ein Brief, in dem er mich – wissend, daß ich Tagebuch schreibe – bat, das nicht zu fixieren: «… ich weiß ja, daß Sie ein diskreter Mensch sind, aber manches sollte man eben doch nicht notieren, das lesen dann in 20 Jahren irgendwelche Leute, und dann weinen einsame Menschen.» Einsame Menschen – das wäre seine Witwe. So entspreche ich dieser Freundesbitte und halte die Details nicht fest). Wozu als Einschub hübsch der Satz paßt, den Hochhuth mir – kurz vor seiner 2. Scheidung wegen Geld-in-Sicherheit-Bringens – von seiner Noch-Angetrauten gestern am Telefon
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