Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
nicht gefällt bzw. warum mir manches mißfällt – es ist die Kehrseite von dem, was mir so gut gefällt: Er ist ein Sentenzen-Schriftsteller.
Das will sagen, daß es unendlich viele Beispiele für wunderbare «Lebensweisheiten» (manchmal leider auch Biedermeierkissen-Bestick-Sprüche), Erkenntnisse, Einsichten und «Verordnungen» gibt, in denen man entweder sich selber erkennt oder die man sich gerne zu eigen machen würde: «Die fertigen gotischen Dome sind nicht vollendet, und die vollendeten sind nicht fertig.» (Ein ganz besonders eindrückliches Dictum!)
Dazu kommen wunderbare literarische Anmerkungen, manchmal – wie im Falle von Spielhagen oder Raabe – kleine Literatur-Kritik-Zauberwerke: «Raabe wird dem ordentlichen Leser auch dann noch etwas bieten, wenn dieser Leser ungeduldig wird und vielfach in den Schrei ausbricht: ‹Ich kann es nicht mehr aushalten!› Aber zu diesem Schrei gibt er doch auch redlich Veranlassung, und wenn ich viel von ihm lesen müßte, so würd’ er vielleicht zu denen gehören, die gerecht zu beurteilen mir auf die Dauer unmöglich würde. Er gehört nämlich – zu jener mir entsetzlichen deutschen Menschengruppe, die mit ALLEM unzufrieden sind, alles erbärmlich verlogen und Quatsch finden, nur den einen wirklichen und unzweifelhaften Quatschkopf nicht, den sie selber erfunden haben.»
Großartig (anläßlich Menzel) über Kritiker: «Wer eine Kunst nicht selber übt, hat sein Lob und seinen Tadel an bestimmter Stelle schweigen zu lassen, nämlich da, wo das mangelnde Können auch sein Wissen lahmlegt.»
Über Gutzkow: «Er war ein Hochstelzler, was ein bißchen an Hochstapler erinnert und auch SOLL, denn alles ist Schein, falsch, unecht.»
Seitenweise könnte man derlei herausschreiben, auch köstliche Menschen«bilder»: «Hedwig T. ist ein kleines gutes Thier und wohl zu leiden, aber kaninchenhaft oder seidenhasig wie die ganze Familie. Alle 4 Schwestern unter die hydraulische Presse gelegt und den Alten obenauf, kommt noch kein Tropfen Esprit heraus.»
Nun aber das große ABER: An ihm ist selber etwas Ofenhockerisches, Hausjoppenhaftes, selbst da noch, wo er tapfer-aufrecht-störrisch ist, etwa wenn er dem ursprünglichen «Feind» Manteuffel nach dessen Sturz nicht «nachtreten» mag.
Das vielfach variierte Lebensmotto «Aber genug – ich schreibe mich sonst in kitzligste Fragen hinein»; «Man soll nicht Anstoß geben»; «Zu meinen kleinen Tugenden zählt die, die Menschen nicht ändern zu wollen» – – – hat zum einen etwas Verducktes, Verhuschtes, Mäuse-, nein: Eichhörnchenhaftes, da soll klüglich und sich bewahrend und für den Winter vorsorgend ein Nüß’chen versteckt werden: Es ist aber, dies das Entscheidende, das alles kein KUNSTGESETZ, eine für meinen Geschmack nicht-mögliche Verfaßtheit für einen Schriftsteller: KEINEN Anstoß geben (er meinte wohl: erregen)?? Die Menschen NICHT ändern wollen? Aber der Schriftsteller ist doch auch Prediger?! Er mag wissen, daß er sie nicht ändern KANN – aber er muß es doch versuchen! Er muß doch Sisyphos sein!!
Das ist das Geheimnis respektive des Rätsels Lösung, weil es alles Wohnstubenprosa ist, Kachelofen statt Kamin (à la française), immer ein Hauch von (vorweggenommenem) «Untertan», immer kleine Kammermusik und nie Aufschrei (à la Zola; den er prompt nicht mochte). Für Fontane ist es «mit den Wochen, die das Arbeitsjahr abschließen, wie mit den Wirtschaftskassen der Frauen vom 27sten ab. Es ist nichts mehr drin. Nur Kraft ist noch schwerer zu schaffen als Geld.» Das ist hübsch gesagt – man sieht aber die gekachelte Küche und ein abgeschabtes Portemonnaie. Keine Sätze, die man sich von/bei Kafka, Proust, Joyce, Genet vorstellen könnte. DESWEGEN ist Fontanes Prosa keine GROSSE PROSA: Er ist ein Epigrammatiker, aber kein Psychologe. Prosa ohne Psychologie geht nicht. Die Kraft der französischen Romane des 19. Jahrhunderts war, daß sie eine BÜRGERLICHE Psychologie (Psychologie des Bürgertums) gegen das höfische, verbrauchte und korrumpierte Zeremoniell einsetzten. Fontane meint zwar von sich, er sei Psychologe – verwechselt das aber mit Stimmungsmalerei; DIE stimmt immer, aber – verräterisch – «Liebe war nie meine Force». «Meine ganze Produktion ist Psychographie und Kritik, Dunkelschöpfung im Lichte zurechtgerückt.» Natürlich sind Apodicta wie über Turgenjew – «Apollo mit Zahnweh» – oder über Wagners Versuch, die Weltenrätsel zu lösen, der sich
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