Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
ein Wort des «großen Mannes», auch ein Gast aus Ostberlin – der übrigens «ein anderes Gesicht» hatte. ZU eigenartig, daß man «Ost-Menschen» am Gesicht erkennt, schwer zu analysieren, wieso. Hielt ihn für einen Tschechen oder Polen, als ich ihn sah. Geschichte, auch zeitgenössische Geschichte, hat andere Runen in ihre Gesichter gezeichnet als die Hummermayonnaise hierzulande.
Hôtel Lutetia, Paris, den 25. April
Michel Tournier: Low profile – entweder er ist sehr geschickt (im Sich-Entziehen), oder er ist nicht sehr intelligent. Das Interview läßt eher letzteren Schluß zu.
Lebt erbärmlich, der (Auflagen-)Millionär: das Pfarrhaus in Saint-Rémy kümmerlich, die Möbel Sperrmüll, der Garten klein und mies, das Essen – Lachs aus Silberfolienpapier, Brot aus Klarsichthülle, 1 Scheibe Schinken, ein paar Crevetten ohne Sauce, alles von einem Teller, der in einem blauen Plastikmüllbeutel «abgeräumt» wurde, Cracker zum Kaffee, 2 Glas Wein – entsetzlich. Er ist nett, aber bläßlich.
Bei Tournier nur sehr seltene Blitze à la «Ich verließ einen Knaben und traf Simone Signoret wieder» über die ehemalige, fett und alt gewordene Liebe: Thomas Harlan (der schön und faszinierend war, als ich ihn kennenlernte – ca. 1960).
2. Mai
Prachtvoll-sonnenüberstrahltes Syltwochenende.
Rückfahrt durch das blühende und gemächlich-schweigende Schleswig-Holstein zu Grass, bei dem natürlich auch um diese Jahreszeit der Garten besonders schön ist. Dort Fechners und Wunderlichs. Wurde ein leichter, sehr angenehmer Abend, nicht zuletzt dadurch, daß sozusagen jeder «sein Wesen» vorführte (bei übrigens besonders gutem Essen): Grass erzählte von seiner DDR-Tournee durch evangelische Kirchen, ohne jede Öffentlichkeit, aber mit 1000en von Fans, ringsum die abblätternde und grau-verkommene DDR-Provinz. Fechner eher trocken Politisches konstatierend, meine ewige These der Kollektivschuld weitgehend teilend und mit zig Fakten-Details erhärtend, etwa Heinz Rühmanns Scheidung auf NSDAP-Befehl (während Grass ja in Anspruch nimmt, eventuell verführbar gewesen zu sein, wäre er jünger gewesen, hm). Fechner also der Dokumentarist.
Wunderlich der Bizarrste, Zierlichste, mit der ausbalancierten Bösartigkeitsphantasie seiner Lithos: Sein Bulldog Leo, der nie was «von Frauen» hielt, bekommt nur einmal eine Erektion: auf der Bank, wenn er das Geld riecht!!!
Hotel Kempinski, Berlin, den 5. Mai
Braschs «Weltpremiere». Sah ihn nie so aufgeregt-unsicher, zitterte tatsächlich. Tief verletzt über eine SPIEGEL-Infamie. Der Film ein in Duisburg spielendes, verrätseltes, gehärtetes Gedicht über das Thema: die Mitschuld der Gepeinigten.
Bin mir nicht sicher, ob ich es nicht ein «Filmchen» nennen würde, wenn ich Brasch nicht mögen würde.
Eigenartig, daß er partout dem Schwulsein nahe sein will. Schon immer führte er ja Genet und Pasolini und Fichte (und mich …) im Munde; betonend, daß er noch nie mit einem Mann … Jetzt will er unbedingt, daß sein Film auch eine homosexuelle Nuance hat – à la Fichte, der umgekehrt partout auch jüdisch sein wollte.
Geradezu eine Karikatur: Da taucht ein Brasch Nummer 2 namens Peter auf – sein Bruder. Spricht wie er, derselbe Nöl-Slang im Ton von: «Mich geht das alles nichts an.» Irgendwie wirkt es äffisch. Namhafte Menschen dürfen keine Brüder haben (auch bei Enzensberger grotesk).
Karsten Witte. Könnte man mit dem leben? Bestimmt nicht. Man könnte über ein entlegenes Walter-Benjamin-Fragment diskutieren, aber sonst? Sein läppischer Ehrgeiz «dazuzugehören» läßt ihn von «Lore» (Mau) und «Hubert» reden. «Ich stelle morgen die Cocteau-Edition vor» – die er garnicht herausgibt.
Kampen, den 15. Juni
1 Tag vorm 16. Juni, wie lange ist es her, daß ich da vor meinem Germanistikexamen zitterte; und erst der 17. Juni …
Die üblichen kleinen Literatenenttäuschungen. Enzensberger, der mir nicht genug mein Heinebuch loben konnte – gar ein eigenes Buch mit der Widmung «Mit Dank für Ihren Heine» einmal schickte, gab (wie ich erst jetzt sah) einen Dokumentenband zum Streit Heine – Börne heraus, mit einem Dossier von Stimmen «über Heine», darin sich von Marcuse bis Demetz «sonstwer» findet – aber keine Silbe von FJR. Grüß mich nicht unter den Linden.
Ulkige Beobachtungen zur Genealogie des Kleinbürgertums: «Schwimmen Sie gefälligst gerade!» raunzt mich jemand im Bad an – die Deutschen müssen noch beim Schwimmen
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