Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
die Hände an die Hosennaht legen. Als ich am Wegesrand ein paar wild wachsende Lupinen rupfe, hält extra ein Wagen, dreht – ein Mann steigt aus und macht mir eine Riesenscene – – – die Blumen gehörten dem «Bund»??? Auf dem Bahnhof, als ich Gerd abholte letztes Wochenende, macht ein entweder leicht bekloppter oder leicht besoffner Soldat IM Bahnhof Liegestütz, worauf ein Polizist erschien, ihn zusammenbrüllte, nach «Major Schultz» fragte, mit Feldmarschallschritt durch den Bahnhof eilte, so mit den Beinen «dem werde ich es aber zeigen, der soll mal sehen, mit wem er es zu tun hat» singend. Als er aber 20 Pfennige investieren mußte, weil das Diensttelefon kaputt war, war ihm das zu teuer. Deutsche Ein-Blicke.
1. Juli
Ein Fernsehporträt über Nazim Hikmet (mit, natürlich, statements von Hermlin) brachte eine schmerzhafte (weil Nachweis, wie alt man ist) kleine Erinnerung: wie Hikmet mich in meiner Wohnung in Berlin-Adlershof besuchte, wir uns so spontan mochten und er an meine Wohnungstür malte: HIER WOHNT GOETHE.
11. Juli
Bedrippte Laune seit langem. Trotz schöner Sylttage, auch immer mal zwischendurch. Mir kommt meine Situation so unwürdig vor: ein Jüngelchen, das ICH ausgerechnet vor paar Jahren einstellte, damals 24 Jahre alt, lehnt den Abdruck meines Duisburger Vortrags (für THEMEN DER ZEIT) ab. Unsereins hätte doch gesagt: Egal, was der Alte da runterschmiert – es wird gedruckt, ich habe ihm meine Lebenskarriere zu verdanken. Noch dazu dies nix Geschmiertes ist, sondern ein sehr ernster und gelungener Text.
Fast genauso demütigt mich Lob: daß ich mir von einer Magazin-Redakteurin, obwohl es ja nett und lieb ist, bangend wie ein Schüler im Abitur heute sagen lassen muß: «Toll, der Heine-Aufsatz.» Klar, besser als umgekehrt – aber diese Benotungssituation … Man macht jeden Tag neu ein Examen.
14. Juli
Karsten Witte, der nun ausgerechnet in Volterra soeben seinen an AIDS gestorbenen Freund beerdigt hat, ist – als ich ihn tief berührt und bestürzt anrief – kalt und gelassen (vielleicht, hoffentlich, spielt er das; aber kann man es so gut spielen? Ich könnte es nicht). Erzählt mit diesem ewigen Ehrgeizklirren in der Stimme, daß er gerade an der und der Arbeit sitzt (noch dazu eine Sekundärarbeit, also nicht etwa Prosa – die ja Trauerarbeit sein könnte): «Ich kann ja nicht ständig die Tränentücher auswringen.» Hm.
Und wie es da nun bei Frau Knauf, meiner langjährigen Hausdame, zugeht? An den ausgefransten Rändern meines Lebens öffnen sich wirklich manchmal die absurdesten Löcher: Die Tochter von dieser brav gulaschkochenden Kleinbürgerin ist doch von ihrem eigenen Sohn – also Frau Knaufs Enkel – erstochen worden!!! Abgründe im Gartenhaus.
Gestern gemütlicher Abend mit Ute und Günter Grass, der mir schon sein neues Buch mitbrachte – von dem er ausgehöhlt und leer (er nun aber mit Recht, immerhin geht es um ein BUCH) ist und nicht weiß, was er nun machen soll. Er hat ja keinen anderen «Beruf»; was ihm bleibt, sind paar Radierungen zu machen (die ja in Wahrheit auch rasch gemacht sind), und gleich ein neues Buch hat er (und kann auch nicht haben) nicht im Kopf: «Ich habe kein Thema für einen Roman.»
Kampen, 17. Juli
Flashlights nach gläsern-schönem Sylt-Weekend: Altern reiche Leute leichter/besser?
Von Inge Feltrinelli eine Karte, (der 80jährige) Ledig habe bei seinem Londoner Geburtstagsfest «cheek to cheek» bis morgens um 4 getanzt, bis ihm seine Hose von oben bis unten gerissen ist … da sehe ich, 1 Stunde später, seine alte Sekretärin «BB» halb-blind, verquollenes Gesicht, eine schlurfend-stolpernde Greisin, am Strand entlangschnürend.
Wie seltsam Tiere sind. Eine Möwe am Strand neckt einen Dackel, der sie hechelnd jagen will: Sie spaziert vor ihm, fliegt auf, segelt flach über ihm, landet kurz vor ihm, fliegt wieder auf – ein kokettes Spiel, bei dem der Hund plump und dumm scheint.
22. Juli
Ist das die «neue Lebenssituation»?: sitze, wie ein fauler Buchhalter, vor einem leeren Schreibtisch in meinem (nach Léautaud genannten) «Wandschrank» – Büro in der ZEIT. Kein Anruf, keine Post, nichts zu essen, «richtige Arbeit» hat in so einer Zwischenstunde keinen Sinn. Ich ordne Bücher, Zeitschriften, alte «Vorgänge», u. a. sichte ich meine alten Artikel für Band III der Essays. Traurige Verrichtung – zuviel Tagesaktualität, für die ich – danklos – meine Nerven verbrauchte. Und die sichtbare
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