Tai-Pan
Schiffes voran. »Um acht Glasen bei der Vormittagswache – das wäre nach Küstenzeit Mittag – ist es die Aufgabe des Kapitäns, das Chronometer aufzuziehen«, erklärte er. Er fühlte sich erleichtert, jetzt, da der Tai-Pan das Kommando an sich gerissen hatte, vom Achterdeck herunter zu sein. Aber, so sagte er sich, wärst du Tai-Pan, du tätest das gleiche. Niemals würdest du in deiner Gegenwart irgendeinem anderen erlauben, diese schönste Aufgabe der Welt an sich zu reißen.
Mit seinen kleinen blauen Augen betrachtete er prüfend Culum. Er hatte dessen unwillkürliche Abneigung sofort verspürt, auch die verstohlenen Blicke auf seinen Rücken und seine kurzen Beine bemerkt. Selbst heute noch, nachdem er vierzig Jahre solche Blicke hatte ertragen müssen, verletzte es ihn noch immer, für eine Mißgeburt gehalten zu werden. »Ich wurde in einem Schneesturm auf einer Eisscholle geboren. Meine Mutter hat gesagt, ich sei so schön gewesen, daß der böse Geist Vorg mich eine Stunde nach meiner Geburt mit seinen Hufen zertrampelt hat.«
Culum bewegte sich unruhig durch das Halbdunkel. »Soso!«
»Vorg hat gespaltene Hufe.« Orlow lachte leise in sich hinein. »Glauben Sie an Geister?«
»Nein. Nein, gewiß nicht.«
»Aber Sie glauben an den Teufel, wie alle guten Christen?«
»Ja.« Culum versuchte, sich seine Angst nicht ansehen zu lassen. »Was muß mit dem Chronometer geschehen?«
»Es muß aufgezogen werden.« Wieder lachte Orlow leise. – »Wenn Sie unter den Umständen auf die Welt gekommen wären wie ich, würden Sie vielleicht Culum der Bucklige sein und nicht etwa Culum der Große oder Culum der Schöne, was? Mit meinem Körper betrachtet man die Dinge etwas anders.«
»Es tut mir leid – für Sie muß es sehr schwer sein.«
»Schwer nicht – Ihr Shakespeare hatte dafür bessere Worte. Aber machen Sie sich darum keine Sorgen, Culum der Starke. Ich kann einen Mann, der doppelt so groß ist wie ich, ohne Mühe umbringen. Soll ich Ihnen Unterricht geben, wie man tötet? Sie könnten keinen besseren Lehrmeister haben. Außer dem Tai-Pan.«
»Nein. Nein, danke.«
»Es wäre klug, wenn Sie's lernten. Sehr klug. Fragen Sie Ihren Vater. Eines Tages brauchen Sie solche Kenntnisse. Vielleicht schon bald. Wissen Sie, daß ich das Zweite Gesicht habe?«
Culum erschauerte. »Nein.«
Orlows Augen funkelten. Wenn er lächelte, sah er noch gnomenhafter und bösartiger aus. »Sie werden noch viel lernen müssen. Sie wollen doch Tai-Pan werden, nicht wahr?«
»Ja. Ich hoffe es zu werden. Eines Tages.«
»An dem Tag werden Sie Blut an den Händen haben.«
Culum bemühte sich, der jähen Erregung Herr zu werden. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Sie haben es ja gehört. An dem Tag werden Sie Blut an den Händen haben. Und bald brauchen Sie auch einen Menschen, dem Sie immer vertrauen können. Solange Norstedt Stride Orlow, der Bucklige, Kapitän Ihres Schiffes ist, können Sie ihm vertrauen.«
»Ich werde daran denken, Kapitän Orlow«, antwortete Culum. Insgeheim schwor er sich, daß Orlow, falls er Tai-Pan würde, niemals einer seiner Kapitäne wäre. Als er dem Mann wieder ins Gesicht blickte, hatte er das unheimliche Gefühl, Orlow habe seine Gedanken gelesen.
»Was ist los, Kapitän?«
»Das müssen Sie sich selber fragen.« Orlow schloß das Gehäuse des Chronometers auf. Dazu mußte er sich auf die unterste Sprosse einer Leiter stellen. Dann begann er, die Uhr vorsichtig mit einem großen Schlüssel aufzuziehen. »Diese Uhr braucht dreiunddreißig Umdrehungen.«
»Warum machen eigentlich Sie das und nicht einer der Offiziere?« fragte Culum, aber im Grunde war es ihm gleichgültig.
»Das ist Aufgabe des Kapitäns. Eine seiner Aufgaben. Die Navigation gehört mit zu den geheimen Dingen. Wenn alle an Bord wüßten, wie sie gehandhabt wird, nähmen die Meutereien kein Ende. So ist es am besten, wenn nur der Kapitän und einige der Offiziere sich darauf verstehen. Denn ohne sie wären die Matrosen verloren und hilflos. Aus Sicherheitsgründen wird das Chronometer verschlossen hier aufbewahrt. Ist es nicht ein schönes Stück? Das reine Kunstwerk, finden Sie nicht? Von klugen englischen Köpfen ersonnen und von geschickten englischen Händen hergestellt. Es gibt genau die Londoner Zeit an.«
Culum fühlte sich von der stickigen Luft in dem engen Raum unter Deck bedrückt. Ein Gefühl der Übelkeit stieg in ihm auf – überlagert von der Furcht vor Orlow und vor dem bevorstehenden Kampf. Es
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