Tai-Pan
existieren konnte, eine große Ehre und Freude antun. Mary Sinclair zu wählen, wäre fast ebensogut, denn sie war an diesem Abend seltsam erregend und die schönste Frau auf der Tanzfläche. Aber nichts ließe sich durch eine solche Wahl gewinnen, es sei den Glessings Unterstützung. Struan hatte schon bemerkt, wie Glessing ihr ständig den Hof machte. Seit seiner Ernennung zum Hafenkommandanten war sein Einfluß gestiegen. Und er würde ein sehr nützlicher Verbündeter sein.
Struan bemerkte, wie sich Manoelitas Augen weiteten und Mary Sinclair den Atem anhielt, als er auf sie zuging. Dann jedoch blieb er vor Brock stehen. »Dürfte mit Ihrer Erlaubnis, Tyler, Tess vielleicht den ersten Tanz mit dem Großfürsten anführen?« Struan genoß dieses Knistern der Verwunderung, das er um sich her verspürte.
Brock nickte, hochrot vor Stolz. Liza war hingerissen. Tess errötete und wäre fast in Ohnmacht gesunken, und Culum verfluchte seinen Vater. Er haßte ihn. Und segnete ihn dennoch, weil er Tess diese Ehre zuteil werden ließ. Und alle Chinahändler fragten sich, ob der Tai-Pan etwa Frieden mit Brock schließen wollte. Wenn ja, aus welchem Grund?
»Ich kann es mir nicht vorstellen«, sagte Glessing.
»Richtig«, stimmte Cooper ihm besorgt zu, denn ihm war bewußt, daß Friede zwischen Brock und Struan sich nicht zu seinen Gunsten auswirken würde. »Es wäre eigentlich unverständlich.«
»Die Sache ist völlig klar«, mischte sich Mary ein. »Sie ist die jüngste, und so kommt ihr diese Ehre zu.«
»Da steckt mehr dahinter, Miss Sinclair«, erwiderte Glessing. »Der Tai-Pan tut niemals etwas ohne Hintergedanken. Vielleicht hofft er, sie könnte hinfallen und sich ein Bein brechen oder etwas dergleichen. Er haßt Brock.«
»Ich finde, das ist eine sehr unfreundliche Unterstellung, Kapitän Glessing!« rief Mary scharf.
»Das ist es auch, und ich bitte um Entschuldigung dafür, das ausgesprochen zu haben, was doch jeder denkt.« Glessing bereute seine Unvorsichtigkeit; er hätte sich klar darüber sein müssen, daß ein so unschuldiges Wesen wie Mary diesen Teufel verteidigen würde. »Es ärgert mich nur, weil Sie die Schönste hier sind und zweifellos Ihnen diese Ehre hätte zufallen sollen.«
»Das war sehr nett gesagt. Aber trotzdem dürfen Sie nicht glauben, daß der Tai-Pan jemals aus Bösartigkeit handelt. Bestimmt nicht.«
»Sie haben recht, und ich habe unrecht«, sagte Glessing. »Aber dürfte ich um den ersten Tanz bitten – und Sie nachher als meine Tischdame zum Essen hineinführen? Dann wüßte ich, daß mir verziehen ist.«
Seit mehr als einem Jahr hatte sie sich daran gewöhnt, George Glessing als einen möglichen Ehemann zu betrachten. Sie mochte ihn gern, aber sie liebte ihn nicht. Nun aber hatte sie sich alles verdorben, dachte sie.
»Danke«, sagte sie. Sie senkte die Augen und spielte mit ihrem Fächer. »Wenn Sie mir versprechen, weniger … weniger schroff zu sein.«
»Schon geschehen«, rief Glessing erleichtert.
Struan führte Tess über die Tanzfläche. »Kannst du auch Walzer tanzen, Kleines?«
Sie nickte und bemühte sich, den Sohn des Tai-Pan nicht anzusehen.
»Darf ich Ihnen Miss Tess Brock vorstellen, Hoheit? Großfürst Alexej Sergejew.«
Tess stand wie gelähmt, und ihre Knie zitterten. Aber der Gedanke an Culum und seine Blicke stärkten ihr Selbstvertrauen und ließen sie ihre Fassung wiederfinden.
»Es ist mir eine Ehre, Hoheit«, sagte sie und machte einen Knicks.
Der Großfürst verbeugte sich und küßte ihr galant die Hand. »Die Ehre liegt ganz auf meiner Seite, Miss Brock.«
»Hatten Sie eine angenehme Reise?« fragte sie, während sie sich fächelte.
»Ja, danke.« Er sah Struan an. »Sind bei den Engländern alle jungen Damen so schön?«
Er hatte diese Worte kaum gesprochen, da rauschte an Tillmans Arm Shevaun heran. Ihr Kleid war ein Hauch aus grünem Tüll; weit, einer Glocke ähnlich, bauschte sich der Rock. Das Überkleid war nur knielang, damit das Dutzend kaskadengleicher smaragdgrüner Unterröcke besonders aufreizend zur Geltung kam. Dazu trug sie lange grüne Handschuhe und im roten Haar ein Gesteck aus Paradiesvogelfedern.
»Ich bitte zu entschuldigen, daß wir uns verspätet haben, Exzellenz, Mr. Struan«, sagte sie, knicksend, in der plötzlich eingetretenen Stille. »Aber gerade in dem Augenblick, als wir weggehen wollten, ist mir eine Schuhschnalle zerbrochen.«
Longstaff riß seine Blicke von ihrem Ausschnitt los und fragte sich –
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