Tai-Pan
jedoch nicht grausam. Öffentliche Folter, Totprügeln, Anlegen von Daumenschrauben, Verstümmelung, Ausstechen eines oder beider Augen, Abhacken einer Hand oder beider Hände, des Fußes oder der Füße, Brandmarken, das Beibringen tiefer Fleischwunden, Erdrosselung mittels des Halseisens, das Ausreißen der Zunge und das Zerquetschen der Hoden – das alles waren durchaus übliche chinesische Strafen. Die Chinesen kannten auch kein Geschworenengericht. Da Hongkong außerhalb der chinesischen Gerichtsbarkeit lag, flohen alle Verbrecher, denen es gelang zu entkommen, vom Festland in die Sicherheit von Tai Ping Schon und machten sich über die Schwäche der Barbarengesetze lustig.
Im selben Maße, in dem die Zivilisation auf der Insel aufblühte, sammelte sich auch der Abfall. Und mit dem Abfall kamen die Fliegen.
In unbenutzten Fässern, in zerbrochenen Gefäßen, in den Bambusstangen der Gerüste, in den frisch angelegten und noch nicht vollendeten Gärten und im sumpfigen Becken des Happy Valley stand das Wasser. Und in diesen flachen Pfützen und Tümpeln regte sich Leben: Larven, aus denen Moskitos schlüpften – zarte, kleine Fiebermücken, die erst nach Sonnenuntergang ausschwärmten.
Und damit begann das Sterben im Happy Valley.
26
»Um Himmels willen, Culum, ich weiß davon nicht mehr als du. Unten in Queen's Town herrscht ein tödliches Fieber. Niemand weiß, was die Ursache ist, und jetzt hat es auch die kleine Karen bekommen.« Struan war unglücklich. Seit einer Woche hatte er nichts mehr von May-may gehört. Fast zwei Monate war er nun von Hongkong abwesend, abgesehen von einem hastigen zweitägigen Besuch vor einigen Wochen, als das Bedürfnis, May-may wiederzusehen, ihn überwältigt hatte. Sie blühte auf, ihre Schwangerschaft verlief ohne Beschwerden, und sie waren glücklicher miteinander als jemals zuvor. »Danken wir unserem Herrgott, daß wir unser letztes Schiff abgefertigt haben und morgen aus der Niederlassung abreisen können.«
»Onkel Robb sagt, es sei Malaria«, rief Culum erregt und fuchtelte mit Robbs Brief herum, der gerade eingetroffen war. Die Sorge um Tess machte ihn fast verrückt. Erst am Tag zuvor hatte er einen Brief von ihr erhalten, in dem sie ihm schrieb, sie, ihre Schwester und ihre Mutter seien vom Schiff in Brocks zum Teil fertiggestellte Faktorei umgezogen. Aber die Malaria hatte sie mit keinem Wort erwähnt. »Was tut man gegen Malaria?«
»Soviel ich weiß, gibt es nichts dagegen. Aber ich bin kein Arzt. Und Robb hat gesagt, daß nur einige von den Ärzten es für Malaria halten.« Struan schlug gereizt mit dem Fliegenwedel um sich. »›Malaria‹ ist das italienische Wort für ›schlechte Luft‹. Mehr weiß ich nicht – mehr wissen auch andere nicht. Du lieber Himmel, wenn wir im Happy Valley schlechte Luft haben, sind wir ruiniert!«
»Ich habe dir gleich geraten, dort nicht zu bauen«, tobte Culum. »Ich habe das Tal vom ersten Augenblick an gehaßt.«
»Zum Teufel noch mal, willst du etwa behaupten, du hättest von vornherein gewußt, daß die Luft dort giftig ist?«
»Nein. Das habe ich nicht gemeint. Ich wollte sagen – na ja, ich habe diesen Ort eben von Anfang an gehaßt.«
Struan schlug das Fenster zu, damit der Gestank, der vom großen Platz vor der Niederlassung aufstieg, nicht mehr herein konnte, und scheuchte wieder ein paar Fliegen weg. Insgeheim betete er, daß es sich bei diesem Fieber nicht um Malaria handeln möge. War es aber Malaria, so konnte jeder einzelne befallen werden, der im Happy Valley schlief. Es war allgemein bekannt, daß die Erde in manchen Gegenden der Welt von Malaria verseucht war und aus irgendeinem Grund in der Nacht tödliche Gase ausströmte.
Nach Robbs Mitteilungen hatte das Fieber vor vier Wochen in geheimnisvoller Weise begonnen. Zunächst einmal waren die chinesischen Arbeiter befallen worden. Dann wurden andere betroffen – hier ein europäischer Händler, dort ein Kind. Aber nur im Happy Valley, nirgends sonst auf Hongkong. Im Augenblick waren bereits vier- oder fünfhundert Chinesen erkrankt und zwanzig oder dreißig Europäer. Die Chinesen lebten in der abergläubischen Furcht, daß die Götter sie bestraften, weil sie entgegen dem Dekret des Kaisers auf Hongkong arbeiteten. Nur die Erhöhung der Löhne hatte sie zur Rückkehr bewegen können.
Und nun war auch die kleine Karen erkrankt. Am Schluß seines Briefes schrieb Robb: »Sarah und ich sind verzweifelt. Der Verlauf der Krankheit ist heimtückisch.
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