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Tai-Pan

Tai-Pan

Titel: Tai-Pan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Clavell
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für Essen.«
    May-may redete im Befehlston auf den Diener ein, der sie noch immer anstarrte, und entfernte sich dann.
    Der ihr eigene unsicher trippelnde Gang rührte Struan immer wieder. May-may hatte bandagierte Füße. Sie waren nur etwa eine Handbreit groß. Als Struan sie vor fünf Jahren kaufte, hatte er die Binden durchschnitten und war entsetzt gewesen von der Mißbildung, die nach dem unerbittlichen alten Brauch ein wesentliches Merkmal der Schönheit eines Mädchens war – winzige Füße. Nur ein Mädchen mit gebundenen Füßen – ›Lotusfüßen‹ – konnte Ehefrau oder Konkubine werden. Die anderen, die normale Füße hatten, waren Bäuerinnen, Dienerinnen, arme Prostituierte, Amahs oder Arbeiterinnen und wurden verachtet.
    May-mays Füße waren verkrüppelt. Ohne den festen Halt der Bandagen hatte sie schreckliche Schmerzen gelitten. So hatte Struan erlaubt, daß ihr die Bandagen wieder angelegt wurden, und nach einem Monat hatten die Schmerzen nachgelassen; May-may hatte wieder gehen können. Erst im hohen Alter wurden solche Füße unempfindlich und bereiteten keine Schmerzen mehr.
    Struan hatte sie damals gefragt, wobei er sich Gordon Tschens als Dolmetscher bediente, wie das Bandagieren überhaupt vor sich gehe. Stolz hatte sie ihm erzählt, daß ihre Mutter, als sie sechs Jahre alt war, mit dem Binden begonnen hatte. »Die Binden waren zwei Zoll breit und zwölf Fuß lang, und sie waren feucht. Meine Mutter band sie fest um meine Füße – um die Ferse, über den Spann und unter dem Fuß hindurch, so daß die vier kleineren Zehen unter die Sohle des Fußes gebogen wurden. Die große Zehe aber blieb frei. Sobald die Bandagen trockneten, zogen sie sich zusammen, und der Schmerz war furchtbar. Im Verlauf von Monaten und Jahren kommt die Ferse den Zehen immer näher, und der Spann wölbt sich. Einmal in der Woche werden die Bandagen für ein paar Minuten abgenommen und die Füße gewaschen. Nach einigen Jahren schrumpfen die kleinen Zehen ganz ein, sterben ab und werden entfernt. Mit fast zwölf Jahren konnte ich noch ganz gut laufen, aber meine Füße waren noch immer nicht klein genug. Da fragte meine Mutter eine Frau um Rat, die sich auf die Kunst des Bindens der Füße verstand. An meinem zwölften Geburtstag kam die weise Frau in unser Haus; sie hatte ein scharfes Messer und Salben bei sich. Mit dem Messer machte sie quer über meine Fußsohlen einen Einschnitt. So konnte sie die Ferse noch dichter an die Zehen herandrücken, nachdem die Bandagen wieder angelegt waren.«
    »Wie grausam! Frag sie doch, wie sie diesen Schmerz hat ertragen können?«
    Struan entsann sich ihres spöttischen Ausdrucks, als Tschen ihr die Frage übersetzte. In ihrem bezaubernden singenden Tonfall antwortete sie.
    »Sie sagt: ›Jedes Paar gebundener Füße kostet einen See von Tränen. Aber was haben Schmerzen und Tränen zu bedeuten? Jetzt brauche ich mich nicht mehr zu schämen und kann mir von jedem die Füße messen lassen.‹ Sie möchte, daß Sie ihre Füße nachmessen, Mr. Struan.«
    »Ich denke nicht daran.«
    »Bitte, Sir. Es wird sie sehr stolz machen. Sie sind nach chinesischer Auffassung vollkommen. Wenn Sie es nicht tun, wird sie glauben, daß Sie sich ihrer schämen. Sie wird vor Ihnen entsetzlich ihr Gesicht verloren haben.«
    »Wieso?«
    »Sie glaubt, Sie hätten ihr die Bandagen deshalb abgenommen, weil Sie der Meinung waren, sie habe gemogelt.«
    »Warum hätte ich das annehmen sollen?«
    »Weil Sie … die Sache ist die, sie hat noch nie einen Europäer gekannt. Bitte, Sir. Nur wenn Sie ihr zeigen, daß Sie stolz auf sie sind, kann sie das für alle ihre Tränen entschädigen.«
    Da hatte er ihre Füße gemessen und einer Freude Ausdruck gegeben, die er gar nicht empfand, und dreimal hatte sie Kotau vor ihm gemacht. Er konnte es nicht leiden, wenn Männer und Frauen Kotau machten, niederknieten und mit ihren Stirnen den Boden berührten. Aber der alte Brauch verlangte diese Huldigung des Niedrigeren dem Höheren gegenüber, und Struan konnte es nicht verbieten. Eine Ablehnung mußte May-may nur abermals verängstigen, und sie hätte nun ihr Gesicht vor Gordon Tschen verloren.
    »Frag sie, ob die Füße ihr jetzt weh tun.«
    »Sie werden ihr immer weh tun, Sir. Aber ich kann Ihnen versichern, daß es ein sehr viel größerer Schmerz für sie wäre, wenn sie große, widerliche Füße hätte.« Da hatte May-may etwas zu Tschen gesagt, und Struan hatte das Wort fan-quai herausgehört, was nichts

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