Taken
ihnen fehlen wird. Kale ist inzwischen eingeschlafen und mein Arm auch. Ich muss sie auf die andere Seite setzen, und dazu muss ich Emma abschütteln. Doch es scheint ihr nichts auszumachen, sie wischt sich die Tränen weg und lächelt mir dann zu, während sie Kales blonde Locken streichelt. Merkwürdig, wie wir drei so hier stehen. Beinahe schön. Fast wie eine Familie. Ich frage mich, ob ich mir in einem anderen Leben, an einem Ort ohne den Raub – falls so etwas denn existiert – vielleicht sogar wünschen würde, einmal Vater zu werden.
Als die Trauerfeier zu Ende ist und das Feuer gelöscht wird, ist die Sonne schon lange untergegangen. Nach und nach gehen die Menschen nach Hause. Sasha findet uns und nimmt mir Kale ab, nachdem sie uns eingeladen hat, noch etwas bei ihr zu trinken. Wir nehmen an, denn wir sind bedrückt und ohne den Raub ist der Abend unausgefüllt. Sasha bringt Kale zu Bett, holt dann einen Krug Bier hervor und schenkt drei große Becher ein. Nach mehreren Runden Kleine Lüge – einem Spiel, bei dem man vier Wahrheiten und eine Lüge erzählt, und derjenige, der die Lüge nicht erkennt, trinken muss – haben wir die langwierige Trauerfeier vergessen und kichern beschwipst.
»Dass du dir die Haare in Brand gesetzt hast, als du bei einer Zuweisung versucht hast, Kerzen anzuzünden. Das ist die Lüge«, meint Emma zu Sasha.
»Auf gar keinen Fall«, werfe ich ein. »Meiner Meinung nach ist es die Geschichte, wie du als Kind so viele Erdbeeren gegessen hast, dass du eine Woche krank warst. Ich weiß ganz genau, dass du Beeren hasst und sie nicht einmal angerührt hättest.«
Sasha lacht leise. »Ihr irrt euch beide. Ich hasse Beeren, aber das liegt an diesem Kindheitstrauma, und ich habe mir bei einer meiner ersten Zuweisungen die Hälfte meiner Haare komplett abgesengt.«
Emma und ich stöhnen enttäuscht auf. »Und was war jetzt die Lüge?«, fragt Emma.
»Dass ich nicht auf Bäume klettern kann. Ich weiß, dass ich nicht besonders abenteuerlustig wirke, aber ich kann tatsächlich ohne allzu viel Mühe einen Baumstamm hinaufklettern.«
Emma und ich wechseln einen zweifelnden Blick.
»Ach, seid still, ihr beiden. Ich zeige es euch bei Gelegenheit, wenn es draußen nicht stockdunkel ist … und wir nicht ganz so viel Bier intus haben. Jetzt trinkt aus.« Wir gehorchen und leeren unsere Becher. Aus irgendeinem Grund schlagen Emma und ich uns schlecht bei diesem Spiel, und Sasha, deren Becher noch halbvoll ist, ist eine ziemlich gute Schwindlerin. Wir spielen noch ein paar Runden, bei denen ich erfahre, dass Emma furchtbare Angst vor Entbindungen hat. Mit Blut und Eingeweiden wird sie fertig, aber die Vorstellung, ein Kind auf die Welt zu holen, erschreckt sie zu Tode. Und Sasha behauptet, als Köchin eine Katastrophe zu sein, obwohl sie auf dem Markt Kräuter verkauft. Als Emma und ich uns von Sasha verabschieden, dreht sich uns der Kopf und der Heimweg kommt uns über alle Maßen schwierig vor.
Ich bringe Emma nach Hause. Wir beide bewegen uns im Zickzack über den unbefestigten Weg wie trockenes Laub an einem windigen Tag. Emma summt vor sich hin und dreht sich mit ausgestreckten Armen anmutig im Kreis. Als sie den Kopf in den Nacken legt, um die Sterne zu betrachten, stolpert sie und schlägt sich das Knie an der aus Steinen gemauerten Treppe auf, die zu ihrer Haustür führt.
»Sieh doch, ich blute!«, verkündet sie beinahe fröhlich. Es ist nicht lustig, dass sie sich verletzt hat, aber ich lächle trotzdem.
»Geht es dir gut?«, frage ich und betrachte den Blutfleck an ihrem Knie.
Sie nickt. »Hmm … hmm. Tut nicht mal weh.« Erstaunlich, was Bier mit einem macht, es löscht den Schmerz und ersetzt ihn durch ein faszinierendes Schwindelgefühl.
»Hier«, sage ich und strecke ihr eine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen. Sie ist leichter, als ich erwarte, sodass ich sie unabsichtlich bis an meine Brust ziehe. Sie steht da, die Hände auf mein Herz gelegt, und sieht zu mir auf. Außer ihr scheint sich alles zu drehen und in mein Blickfeld herein- und wieder hinauszutreiben. Liegt es am Bier, dass meine Welt sich dreht, oder an ihr? Ich nehme ihre Hände und überlege, ob ich etwas tun soll, irgendetwas. Aber wir stehen einfach nur mit ineinander verflochtenen Fingern da und sehen einander in die Augen.
Irgendwo in der Stadt knallt eine Tür, und wir lösen uns voneinander.
»Tja«, sagt Emma und streicht sich das Haar hinter die Ohren. »Sehen wir uns morgen? Treffen wir uns
Weitere Kostenlose Bücher