Taken
trete von ihr weg. Sie lässt den Pfeil losschnellen, und dieses Mal trifft er ins Ziel. Er hängt zwar nur mit knapper Not am äußeren Ring, aber er ist trotzdem da.
Sie springt vor Aufregung in die Höhe und dreht sich zu mir um. »Hast du das gesehen?«
»Klar. Ich stehe doch gleich hier.«
Sie legt einen weiteren Pfeil auf und zielt noch einmal. Ich sehe zu, wie sich ihre Muskeln anspannen, als sie das Ziel anvisiert, und bewundere, wie sich ihre Augen zusammenziehen. Ich frage mich, wieso sie mich noch nicht dabei erwischt hat, wie ich sie so anstarre, nicht ein einziges Mal, seit wir angefangen haben, uns zu treffen. Vielleicht war das Bogenschießen eine gute Ablenkung.
Emma lässt ihre Bogensehne los. Dieses Mal schlägt sie sich viel besser und verfehlt die Mitte der Zielscheibe nur um einen einzigen Ring.
Mit einem Triumphschrei schlingt sie die Arme um meinen Hals und drückt mich. Ich bin verblüfft. Sie fühlt sich in meinen Armen winzig an, obwohl sie sonst nicht klein wirkt. Als sie sich von mir löst, sehe ich, dass sie aufrichtig stolz ist.
»Ich glaube, du bist ein Naturtalent«, sage ich zu ihr.
»Und ich finde, du bist ein guter Lehrer.«
»Nein, ernsthaft. Durch Unterricht und die richtige Haltung kommt man nur bis an einen gewissen Punkt. Den Rest hat man entweder in sich, oder nicht.«
Sie geht zur Zielscheibe, zieht die Pfeile heraus und steckt sie wieder in ihren Köcher. »Lass uns um die Wette schießen«, sagt sie.
»Glaubst du wirklich, du kannst mich besiegen, nachdem du zweimal eine Zielscheibe getroffen hast?«, frage ich skeptisch.
»Ach, komm schon. Es ist ein Spiel. Außerdem hast du an diesem Tag am See mich herausgefordert, nicht umgekehrt.«
Ich grinse. »Schön, wie du willst. Sag nur nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Und dann beginnen wir mit dem Spiel und schießen drei Pfeile aus dreißig Schritt Entfernung ab, dann drei weitere aus fünfzig, und zum Schluss noch einmal aus siebzig. Auf dreißig Schritt schlägt sich Emma ausgezeichnet, aber auf fünfzig beginnen ihre Pfeile vom Ziel abzukommen. Aus der weitesten Entfernung verfehlt sie es vollkommen, und alle drei Pfeile landen auf dem weichen Boden in der Umgebung der Zielscheibe. Meine Treffer sind perfekt, obwohl ich mir nicht einmal Mühe gebe. Wir sammeln unsere Pfeile ein und setzen uns ins Gras. Uns steht der Schweiß auf der Stirn.
»Schön, du hattest recht«, gesteht Emma. »Beim Schießen schlägst du mich haushoch.«
»Hab ich dir doch gesagt.« Ich nehme einen Schluck aus meinem Wasserschlauch, reiche ihn dann an sie weiter und sehe zu, wie ein Schweißtropfen an ihrem Hals herab und über ihr Schlüsselbein rinnt. Er verschwindet im Ausschnitt ihres Hemds.
»Wenn ich dir etwas erzähle, versprichst du, es nicht weiterzusagen?«, fragt sie und gibt mir das Wasser zurück.
»Klar.« Für sie würde ich alles tun.
»Hast du einmal die Schriftrollen aus der Bibliothek gelesen, in denen die Anfänge dieses Orts dokumentiert sind?«
»Die Geschichte von Claysoot? Ja, ich habe sie gelesen.«
»Findest du sie nicht eigentümlich?«
»In welcher Hinsicht?«
»Erst einmal, dass ihre Erinnerungen nach dem Sturm, der Claysoot zerstört hat, so lückenhaft waren. Manches wussten sie noch – zum Beispiel, wie man die Äcker pflegt, einen Webstuhl bedient oder zusammengebrochene Gebäude wieder aufbaut –, aber sie hatten die Namen ihrer Nachbarn vergessen. Und den ihrer eigenen Stadt und alles , was sie getan hatten, bevor der Sturm kam. Wie kann so etwas passieren? Und wo waren ihre Eltern? In den Schriftrollen steht nichts davon, dass sie Tote begraben mussten, und wenn die Erwachsenen nicht bei dem Sturm umgekommen sind, dann heißt das, sie waren nicht da, als er kam.«
»Du glaubst also, die Eltern seien anderswo gewesen?«, frage ich. Die Vorstellung bestürzt mich.
»Vielleicht? Ich habe keine Ahnung. Die Vernunft sagt mir, dass die Kinder in Claysoot geboren wurden, von Müttern, die auch hier gelebt haben müssen, denn niemand überlebt den Versuch, die Mauer zu überqueren. Aber gleichzeitig erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass jede einzelne Mutter bei einem Sturm gestorben ist, den kleine Kinder überlebt haben.«
So habe ich das noch nie gesehen, aber sie könnte recht haben.
»Es ist unwahrscheinlich«, wiederhole ich ihre Worte. »Aber möglich.«
Sie runzelt die Stirn. »Es fühlt sich trotzdem komisch an.«
»Wahrscheinlich werden wir es nie erfahren. Die
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