Taken
meine Mutter einen Hausbesuch. Dann können wir nachsehen, aber es muss schnell gehen.«
»Danke, Emma.«
Sie steht auf und reicht mir ihren Arm. »Wir sollten zurückgehen. Heute Abend findet Mohassits Zeremonie statt, und wahrscheinlich fängt das Bankett bald an.«
»Oh. Das hatte ich vergessen.« Noch ein Junge, der achtzehn wird, noch ein Leben, das verloren geht. Ich bin nicht eng mit Mohassit befreundet, aber ich kenne ihn vom Markt ganz gut. Er arbeitet auf den Viehweiden und hütet Schafe und Rinder. Mohassit ist dünn und anfällig und bringt es fertig, öfter krank zu werden als jeder andere, den ich in Claysoot kenne. Er hatte von Anfang an schlechte Aussichten, und trotzdem hat er es irgendwie immer geschafft. Leider weiß ich, dass er es heute Abend nicht schaffen wird.
Wir suchen unsere Ausrüstung zusammen und gehen zurück in die Stadt. Bis wir alles zu meinem Haus gebracht haben, geht die Sonne schon unter. Als wir uns der Ratsglocke nähern, wird klar, dass etwas nicht stimmt. Die Menschen haben sich wie üblich versammelt, aber in der Gruppe herrscht Schweigen. Niemand sitzt am Feuer oder genießt das Essen. Stattdessen stehen alle stocksteif da und starren die Straße entlang, dorthin, wo der Jagdweg mündet. Emma und ich folgen ihren Blicken, und als wir es sehen, erstarren wir.
Zwei Jungen kommen mit einer Trage aus den Wäldern. Darauf liegt ein schwarz verkohlter Körper, dessen Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verbrannt ist. Aber die zarte, magere Gestalt ist unverkennbar, kein Zweifel darüber, wer heute sein Glück an der Mauer versucht hat. Wahrscheinlich war er nicht pünktlich zu seinem zeremoniellen Bankett gekommen, und dann wurde der Suchtrupp ausgeschickt. Und der hat ihn irgendwo am Fuß der Mauer gefunden, dort, wo alle, die sie zu übersteigen versuchen, wieder auftauchen. Tot.
Heute wird kein Raub stattfinden, sondern eine Trauerfeier.
7. Kapitel
Es dauert nicht lange, bis die Trauerfeier beginnt. Maude lässt das Feuer brennen, und die Jungen mit der Trage – in einem davon erkenne ich Mohassits jüngeren Bruder – legen den Körper in die Flammen.
Emma steht ganz dicht bei mir und hat mich auf der linken Seite untergehakt. Sasha muss in der Nähe sein, denn Kale findet uns in der Menge und klettert auf meinen anderen Arm. Ich drücke sie an meine Brust, und sie vergräbt das Gesicht an meinem Hals. Die Menschen lassen die Köpfe hängen. Freunde und Familienmitglieder weinen. Als Maude aufsteht, verstummen alle.
»Lasst uns ein kurzes Schweigen einlegen«, ruft sie feierlich aus, »für Mohassit Gilcress, der am Vorabend seines achtzehnten Geburtstags durch die Mauer gestorben ist.«
Ich beuge den Kopf, aber das Schweigen tritt nicht ein. Eine Stimme gellt durch die Menge.
»Durch den Raub!«, schreit jemand hysterisch. »Nicht die Mauer hat ihn getötet, sondern der Raub!« Eine Gestalt taucht neben der Glocke auf. Es ist Mohassits Mutter. Sie ist sogar noch kleiner und zarter, als er es war, und schwimmt geradezu in ihrer braunen Tunika.
»Die Mauer mag ihn getötet haben«, fährt sie fort, »aber trotzdem hat der Raub ihn geholt. Sie alle. Ob sie verschwinden und in ihren Tod rennen, wir verlieren sie durch den verdammten Raub. Ich verfluche ihn, und ich verfluche diesen Ort, weil er uns unsere Jungen stiehlt. Ich hasse diesen Ort. Ich hasse ihn!« Sie ist völlig aufgelöst. Sie stößt die Worte hervor wie panische Aufschreie, immer wieder von Schluckauf unterbrochen. Dann sackt sie zu Boden und zittert wie ein verirrtes Kind, bis ihr lebender Sohn sie in die Arme zieht, so, als wäre er die Mutter und sie tröstete ihn. Emma drückt das Gesicht an meine Schulter. Mein Ärmel wird feucht, und ich erkenne, dass sie weint. Bei vielen rinnen die Tränen.
»Der Tod ist ein Teil des Lebens, genau wie der Raub zum Leben gehört«, erklärt Maude. »Wir verstehen das vielleicht nicht, finden es ungerecht. Aber wenn wir den Ort verfluchen, den wir unsere Heimat nennen, können wir nicht in Frieden mit unserer Lebensweise existieren, oder mit denen, die uns entrissen werden. Wir wollen uns an Mohassit erinnern und an die Freude, die er in unser Leben gebracht hat.«
Mohassits Mutter nickt hektisch. Ihr Sohn hält sie immer noch umarmt. »Eine Schweigeminute«, sagt sie, und dieses Mal beugt die Versammlung zum Gedenken die Köpfe.
Dann treten mehrere Menschen vor, um ein paar Worte über Mohassit zu sprechen: Erinnerungen, Worte des Dankes, Worte darüber, was
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