Taken
Fesseln. Ich muss zu ihr. Mit einem Mal geht mein Atem ungleichmäßig.
»Verdammt sollt ihr sein. Alle.« Ich spucke auf die Mitte des Tisches. Der Speichel landet vor einer großen, mageren Frau, die die Augenbrauen zusammenzieht. »Und du besonders«, brülle ich weiter und sehe meinen Vater an. Er wirkt verletzt, aber er hat mich verraten. Er hat mir die Hand geschüttelt, obwohl er wusste, dass diese Abstimmung kommen würde. Außerdem fühlt sich das Schreien auf eine schmerzhafte Weise gut an, so wie Salz in einer Wunde.
»Ihr wollt mein Leben durch eine Abstimmung wegwerfen?«, fahre ich fort. »Habt ihr überhaupt eine Ahnung, was ich durchgemacht habe, um herzukommen? Wisst ihr, was ihr mir wegnehmt, wenn ihr nicht für mich stimmt?«
Am Kopfende des Tisches lächelt ein älterer Mann, der nur noch wenige Haare auf dem Kopf hat. »Da haben wir ja einen ganz Temperamentvollen.«
»Er ist nur aufgeregt, Ryder«, wirft mein Vater ein. »Und verwirrt.«
»Immer mit der Ruhe, Owen«, gibt Ryder zurück und fährt sich mit der Hand über seinen kahlen Schädel. »Ich habe nie behauptet, Temperament sei etwas Schlechtes.« Die Art, wie mein Vater sich bei seinen Worten zurückzieht und wieder auf seinem Stuhl zusammensinkt, verrät mir, wer hier das Sagen hat. Weder Harvey noch Elijah, sondern dieser Mann, ein Gesicht, das ich bis heute noch nie gesehen habe.
»Was geht hier vor?«, frage ich. »Ich will Erklärungen. Ich verlange sie.«
Ryder schiebt seinen Stuhl zurück und steht auf, wobei er sich mit den Armen auf dem Tisch vor ihm abstützt. Seine Sanftheit, die mit unmissverständlichem Selbstvertrauen gepaart ist, erinnert mich stark an Maude. Maude, der ich einmal vertraut habe.
Der alte Mann sieht mich direkt an. »Mein Name ist Ryder Phoenix, Gray«, erklärt er. »Du und ich stammen vom selben Ort, nämlich aus Claysoot. Ich kann verstehen, warum du frustriert bist, weil ich das Gleiche erlebt habe. Einige von uns haben das hinter sich. Ganz gleich, wie die Abstimmung ausgeht, ich gebe dir mein Wort darauf, dass du die Wahrheit erfahren sollst.«
Antworten. Jetzt müsste ich erleichtert sein, aber sein Name geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Ryder Phoenix. Warum kommt er mir so bekannt vor? Und dann fällt es mir wieder ein: die ältesten Schriftrollen. Er ist der Junge, mit dem Maude ihr erstes Experiment durchgeführt hat. Der Junge, durch den der Raub entdeckt wurde. Er ist jetzt viel älter als dieser Junge, vor mir gealtert und erwachsen geworden, aber er muss es sein.
»Die ganze Wahrheit. Alles«, verlange ich. »Über das Laicos-Projekt, und warum Sie nach allem, was er Ihnen angetan hat, für Harvey arbeiten.«
Die einzige Frau am Tisch kichert. »Der Junge ist wohl kaum in einer Position, in der er Forderungen stellen kann.«
»Ist schon in Ordnung, Fallyn«, sagt Ryder. »Die ganze Wahrheit, Gray. Das verspreche ich dir.«
Ich sollte ihm danken, aber ich schweige.
»Dies ist eine Abstimmung bezüglich des Lebens eines gewissen Gray Weathersby, Sohn des Owen Weathersby, Mitglied des Frankonischen Ordens und vor zwei Tagen durch Brianna Nox gefangen genommen und hergebracht worden. Jede Person hat eine Stimme; ›nein‹ steht für Tod und ›ja‹ für Begnadigung. Einfache Mehrheit.« Ryder wendet sich an mich. »Hast du noch etwas zu sagen, was nicht bereits zur Sprache gekommen ist?«
Ich sehe mich in dem aus dem Fels gehauenen Raum um. Aufgebrachte Blicke richten sich auf mich, mein Vater ist der Einzige, der auch nur annähernd freundlich schaut. Blaine würde mir jetzt raten, zuerst zu überlegen und meine Gedanken zu ordnen, bevor ich sie heraussprudeln lasse. Ich hole tief Luft und beginne so ruhig, wie ich eben kann, zu sprechen.
»Ich sollte hingerichtet werden. Deswegen bin ich hierher geflohen, um Schutz zu suchen, aber ich wäre auch sonst gekommen. In Taem habe ich Aufzeichnungen gesehen; Akten, die belegten, dass Frank Hinrichtungen angeordnet hat. Die Wahrheit ist, dass ich über die Mauer geklettert bin, um Antworten zu suchen, aber nur neue Fragen gefunden habe. Und all diese Fragen haben mich hergeführt, weil ich glaube, dass Sie die Antworten haben. Ich weiß es.«
Das ist ein Teil der Wahrheit, und vielleicht geht es mir deswegen so leicht über die Lippen. Ich bin ja tatsächlich gekommen, um Schutz zu suchen. Aber ich bin auch wegen Harvey hier, wegen der Antworten, die er hat. Doch diese unbedeutende Einzelheit behalte ich einstweilen für
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