Taken
habe, und berichte, wie ich über die Mauer geklettert bin. Dann erzähle ich ihm von Emma, dass sie im Gefängnis sitzt, und von meiner angeordneten Hinrichtung. Er schweigt, bis wir zu meinem Zimmer kommen, einem winzigen Raum an einem Tunnel, der wie alle anderen aussieht. Darin stehen ein einfaches Feldbett und eine Kommode, und an einer Wand hängt ein Gemälde, das die Sonne und den blauen Himmel zeigt, wie man sie in einem fensterlosen Raum tief im Fels nie zu sehen bekommt.
»Deine Mutter, Sara. Wie geht es ihr?«, fragt er. Ich halte inne, weil ich nicht sicher bin, wie ich es ihm sagen soll. Er ist praktisch ein Fremder für mich, doch ich weiß, dass eine solche Nachricht persönlich sein und behutsam und mit Bedacht überbracht werden sollte. Doch ich glaube, mein Schweigen verrät ihm genug.
»Nein«, murmelt er ungläubig. »Wann?«
»Als wir fünfzehn waren. Lungenentzündung. Carter hat alles versucht, konnte sie aber nicht retten.«
Ich sehe, wie seine Augen feucht werden. Es ist so eindeutig, dass er sie geliebt hat. Ich frage mich, ob er die Zuweisungen genauso gehasst hat wie ich, und ob er meiner Mutter jemals dieses große Wort zugeflüstert hat, obwohl es so gewichtig ist.
»Blaine hat ein Kind«, sage ich in dem verzweifelten Versuch, ihn abzulenken, bevor ihm die Tränen kommen. »Sie heißt Kale, und sie ist ein ganz niedliches kleines Ding, noch keine drei Jahre alt.«
Er setzt sich auf den Rand meines Betts und fährt sich mit der Hand durchs Haar, genau wie ich, wenn ich nervös bin. »Ich hatte selbst kaum Gelegenheit, Vater zu sein«, sagt er. »Und jetzt kann ich mir gar nicht vorstellen, dass ich schon Großvater bin.«
Es ist merkwürdig, ihn so verloren zu sehen. Wahrscheinlich habe ich immer daran geglaubt, Eltern müssen alles wissen. Wenn ich mich als Kind verletzt hatte, bin ich zu Ma gelaufen. Wenn ich Trost oder einen Rat brauchte, hatte sie immer beides für mich. Es ist ziemlich verblüffend, meinen Vater verwirrt und hin- und hergerissen zu sehen. Dann schiebt er seine Gedanken über seine Vaterrolle beiseite und sieht wieder zu mir hoch.
»Ich nehme an, du weißt über Saras Experiment Bescheid«, sagt er. »Deswegen bist du über die Mauer geklettert, oder?«
Ich nicke.
»Als sie euch beide bekommen hat, war ich siebzehn. An diesem Tag ging ich nach der Jagd zu ihr – denn wir waren uns einig, dass wir uns weiter sehen wollten –, und da wart ihr beide und habt eingewickelt auf ihrem Schoß gelegen. Sie hat mich zu sich herangezogen und mir erklärt, dich gebe es gar nicht. Blaine schon; aber du, Gray, wärest ein Geist. Mit Ausnahme von Carter und mir sollte niemand erfahren, dass du auf der Welt warst, jedenfalls nicht bis zum nächsten Jahr. Das war Saras Art, ihrer Welt zu trotzen, die sie nie akzeptieren konnte.
Ich habe deine Mutter sehr geliebt. Aber du musst verstehen, dass ich trotzdem dachte, sie hätte die Verbindung zur Realität verloren. Sie hasste Claysoot und den Raub. Ständig hat sie mir erzählt, wie unnatürlich dieser Ort sei. Sie hat mir ihre Zweifel und Verdachtsmomente anvertraut, aber ich musste versprechen, nichts davon weiterzusagen.«
Es schockiert mich, wie schlecht ich meine eigene Mutter kannte. Blaine oder mir gegenüber hat sie in all den Jahren bis zu ihrem Tod nie von diesen Gefühlen gesprochen. Es ist, als wäre die Frau, von der er erzählt, nicht die, die uns großgezogen hat.
Mein Vater schluckt heftig und fährt fort. »Sie war die Einzige, die von diesen Fragen besessen war. Kein anderer Dorfbewohner hat den Raub hinterfragt, auch ich nicht. Und ich wollte mein letztes Jahr mit meinen beiden Söhnen verbringen. Ich wollte in der Lage sein, euch beide nach draußen zu tragen, an die frische Luft und in die Sonne. Ich wollte die einzige Zeit mit dir, Gray, nicht drinnen verbringen, verborgen vor der Welt.
Aber Sara hat gewonnen. Vor allem konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass sie während unseres letzten gemeinsamen Jahres unglücklich sein würde. Sie war sich so sicher, dass ihr Experiment etwas beweisen würde. Und ich habe sie für verrückt gehalten.« Er reibt sich die Fingerknöchel und schaut zu mir auf. »Wie sich herausstellte, hatte sie vollkommen recht. Claysoot ist unnatürlich, und der Raub ist viel, viel mehr als ein normaler Teil des Lebens. Das alles ist die ganze Zeit ein einziges, großes Komplott gewesen, aber das hat sie nie erfahren.«
»Ja, Claysoot ist ein riesiges Experiment, und du
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