Tal der Tausend Nebel
Leben, und du musst jetzt stark sein, Kind. Ich kann mein Wissen nicht länger für mich behalten, sonst könnte alles noch schlimmer werden. Jetzt gibt es zumindest noch die Möglichkeit … Du könntest vielleicht etwas gegen das drohende Unheil tun. Doch wir müssten schnell handeln … Weißt du jetzt, wovon ich rede?«
Elisa starrte Hoku an.
»Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung.«
Hoku seufzte erneut. In ihren Augen sah Elisa Tränen glänzen.
»Kelii und du, ihr habt einen Fehler gemacht. Es wird schwer für euch werden, also musst du stark sein. Versprichst du es mir?«
Elisa lächelte Hoku schief an.
»Ich hoffe, dass deine Sorge lediglich mit der angespannten Situation zwischen den Weißen und den Hawaiianern zu tun hat. Unsere Herkunft könnte es uns schwer machen, offiziell ein Paar zu werden. Das meinst du doch, oder?«
Elisa war von dem Lager aufgestanden. Sobald sie sich voll aufrichtete, war sie einen guten Kopf größer als die greise Heilerin.
»Ich bin dankbar, dass du mir meine Stimme zurückgegeben hast. Das ist am wichtigsten für Kelii und für mich. Wenn ich gesund bin, dann bin ich auch stark. Wir wissen, dass wir für unsere Liebe kämpfen müssen, vielleicht für den Rest unseres Lebens.«
Elisa strahlte die Alte jetzt an.
»Zusammen sind wir stark, Kelii und ich. Solange wir zusammenhalten, werden wir es schaffen!«
Hoku schüttelte betrübt den Kopf.
»Du weißt es immer noch nicht, Kind. Du hast nicht die geringste Ahnung, wovon ich rede? Es ist schrecklich! Komm, leg dich wieder hin, vielleicht kannst du es dann selber fühlen … Los! Leg dich wieder hin! So kann ich dich ohnehin nicht zu ihm gehen lassen. Du bist … du bist … eben doch Haole!«
Elisa wusste, dass Widerstand zwecklos war. Sie gehorchte und legte sich wieder auf die Matte.
Die Heilerin legte mitleidig ihre rechte Hand auf Elisas Unterleib.
»Spüre einfach nur in dich hinein, Kind. Jede Frau bei uns kann es schnell fühlen … Warum, denkst du, ist dir immerzu übel? Und bleibt nicht deine Mondzeit seit einiger Zeit aus? Was genau geschah in der Grotte?«
Elisas Beine begannen zu zittern. Was sie die letzten Wochen als ungeheuerlichen Gedanken verdrängt hatte, brach jetzt wie ein Unwetter über sie herein. Sie hatte in diesem Teil ihres Körpers nichts spüren wollen. Alles, was sie an diese Nacht erinnerte, sollte für immer auf dem Grund des Höhlensees liegen. Doch in der Sekunde, als Hoku die Worte sagte und mit ihren Fingerkuppen in das Innere ihres Bauches sah, wusste auch Elisa Bescheid. Aber es war ein Wissen, gegen das sie sich mit aller Kraft abschotten musste, weil es ihr Leben zerstören konnte.
Hoku unterbrach ihr Summen. Sie sah sie mit traurigen Augen an, die voller Verständnis waren.
»Ich weiß. Aber du kannst es nicht wegschieben, Kind. Es wächst in dir. Es wird von Tag zu Tag größer und will irgendwann mit eigenen Augen die Sonne sehen. Spürst du seine Kraft?«
Jetzt nahm auch Elisa das fremde Wesen in ihrem Unterleib wahr. In ihr wuchs ein Kind heran. Aber es war auch das Kind von Gerit Janson. Allein der Gedanke daran war so ekelhaft, dass sie das Gefühl hatte, sich auf der Stelle übergeben zu müssen. Doch es kam noch schlimmer. Hoku flüsterte mit trauriger Stimme.
»Das Kind kann nichts dafür. Der Mann hat dir das angetan. Er wusste, dass dieser Platz für dein erstes Kind mit Kelii bestimmt war …«
Elisas Wehschrei war der eines verwundeten Tieres. Als sie sich auf der Matte zusammenkrümmte, wollte ihr Zittern nicht mehr aufhören. In ihrem Magen bildete sich ein Klumpen. Kurz darauf erbrach sie mit lautem Würgen vor den Füßen der Heilerin. Hoku rieb ihr den Rücken.
»So ist es gut. Lass es raus. Du kannst den Hass nicht gebrauchen. Du musst eine Entscheidung treffen und zwar schnell. Kelii muss nichts von diesem Kind erfahren … du hast den Fehler gemacht und nicht er.«
Elisa verstand wieder nicht, was Hoku meinte. Aber die Alte sah sie mit deutlichem Vorwurf an.
»Du liebst Kelii seit dem ersten Tag. Warum bist du dann nicht deinem Gefühl gefolgt? Mit deinen weißen Gedanken von Reinheit und Keuschheit hast du einem Gewalttäter Platz gemacht … Jetzt trägst du ein Kind der Gewalt und nicht Keliis Kind!«
Die Stimme der Alten klang in Elisas Ohren wie das böse Zischen einer Schlange. Sie hatte das Gefühl, dem etwas entgegensetzen zu müssen.
»Es ist Gottes Gebot, unberührt in die Ehe zu gehen … Kelii und ich haben darüber geredet.
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