Tal der Tausend Nebel
höflich. Sie war klug genug, um vor Fried ihre Meinung für sich zu behalten. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es das Klügste war, was sie tun konnte. Aber gleichzeitig stieg in ihr ein Gefühl von Ekel auf, das sie nicht benennen konnte.
Onkel Paul übte in den folgenden Wochen immer mehr Druck auf Elisa aus. Er wollte nicht, dass seine Nichte zu viel Zeit mit dem jungen Hawaiianer verbrachte. Nachdem er mitbekam, wie rasend schnell Kelii durch Elisa die deutsche Sprache lernte, wurde ihm die Klugheit des jungen Hawaiianers unheimlich. Unter vier Augen redete er ihr jetzt fast täglich ins Gewissen.
»Es schickt sich für ein weißes Mädchen nicht, mit einem Kanaka gesehen zu werden, der nicht ihr Diener ist. Die Leute reden über dich, Elisa. Denk immer dran, du bist nicht nur eine Vogel, sondern vor allem bist du als meine Nichte unter meiner Obhut! Du hast es geschafft, schnell wieder halbwegs gesund zu werden. Das liegt als positives Gewicht auf der Waagschale. Du könntest immer noch eine gute Partie machen. Zerstöre dir deine Chance nicht durch Torheit, indem du ins Gerede kommst.«
Elisa wartete einen Moment, nachdem ihr Onkel seinen Satz beendet hatte. Sie wusste, wie sehr er es brauchte, respektiert und bewundert zu werden. In seiner Ehe, so hatte sie aus hawaiischer Quelle erfahren, musste er permanent zurückstecken. Oft wurde er noch nicht einmal ins Ehebett gelassen, sondern musste im kleinen Salon schlafen.
»Lieber Onkel, Sie haben natürlich recht, und ich danke für Ihre Fürsorge«, zirpte Elisa. Mit dem gesammelten Charme, den sie trotz ihrer Verachtung für den Bruder ihres Vaters in diesem Moment aufbringen konnte, strahlte sie ihn an.
»Aber ich bin eine gläubige Christin. Was würde es für einen Eindruck machen, wenn ich meinen Lebensretter von einem Tag auf den anderen nicht mehr unterrichten würde? Man könnte mich unter Umständen für hartherzig halten oder aber mir mein christliches Benehmen absprechen. Das kann keinesfalls Ihre Absicht sein, oder? Um trotz meiner … Behinderung, oder sagen wir einmal Beeinträchtigung, auch nur eine halbwegs gute Partie zu machen, muss es doch letztendlich mein vorbildlicher Charakter sein, der überzeugt?«
Als Elisa das Kontor nach diesem Gespräch mit ihrem Onkel verlassen hatte, jubelte sie innerlich vor Freude. Sie hatte auf Kauai ihren ersten kleinen Sieg errungen.
Elisa war nicht naiv. Sie wusste, dass ihr beschädigtes Bein sie unter Umständen für Jahre zur gesellschaftlichen Außenseiterin machen würde. Wen kannte sie hier schon? Und wer war in ihrem Alter? Johannes, der Patensohn ihres Vaters, auf dessen Freundschaft sie insgeheim gehofft hatte, war kurz nach ihrer Ankunft einem Ruf aufs Festland gefolgt. Dank eines kleinen Erbes ihres Vaters hatte er die Möglichkeit bekommen, sich auf einer Universität weiterzubilden. Junge Europäerinnen in ihrem Alter hatten sie bisher gemieden. Haifischfrau nannte man sie angeblich in Lihue, aber niemand war neugierig genug, um die vierstündige strapaziöse Fahrt über die Lehmstraßen auf sich zu nehmen.
Doch es war nicht nur der Mangel an Alternativen für eine Freundschaft unter Gleichaltrigen, der Elisas Band mit Kelii stärkte. Sie hatte ihn aufrichtig gern. Nicht nur hatte er ihr das Leben gerettet, sondern er beschützte Elisas verstümmelte Seele. Der Hai hatte ihr viel von dem genommen, was für Elisa einst selbstverständlich war. In ihrem bisherigen Leben hatte sie sich sicher gefühlt. Selbst der Tod ihres Vaters hatte ihrem tiefsten Inneren nichts anhaben können. Doch seit ihrer Begegnung mit Großvater Hai, wie Kelii das Ungeheuer nannte, hatte sich in ihrer Seele ein Riss aufgetan, der ihr bisweilen wie ein tödlicher Abgrund schien. Wer war Elisa Vogel wirklich?
Es waren nicht nur ihre Begegnungen mit Maja durch die Tausend-Nebel-Pflanze, die ihre Seele beben ließen, sondern sie fühlte sich auch sonst wie ein gespaltener Mensch.
Elisa gab es in zwei Varianten, vor der Begegnung mit dem Hai und danach. Das Danach war nicht wirklich zu benennen. Ein Tor zu einer anderen Welt hatte sich am Meeresgrund aufgetan. Kelii war der Einzige, der Elisa geeignet schien, auch nur ansatzweise zu verstehen, wer sie seit ihrem Unfall war. Oder aber im Begriff war zu werden.
Elisa seufzte in dem angenehm kühlen Wasserbecken, während sie die erste Tausend-Nebel-Pflanze für ihre Mutter vorsichtig pflückte. Sie konnte sich ein Leben ohne Kelii gar nicht vorstellen. Am Anfang waren
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