Tal der Tausend Nebel
denken, in dem sich zwölfjährige Mädchen zu Tode hungern mussten, um der Gewalt geiler alter Männer zu entgehen. Der Pfarrer und seine Frau aus Hamburg waren heute ebenfalls zu Gast. Die kinderfeindliche Heuchlerin, die Elisa gesagt hatte, dass sie zu jung sei, um dem Komitee anzugehören, saß Elisa schräg gegenüber. Fröhlich prosteten sie sich mit ihren Weingläsern zu und sprachen vom diesjährigen Hibiskus-Ball in Lihue. Aber die Frau des Pfarrers wusste, was mit den jungen Hafenhuren geschah, wenn sie sich weigerten, Männern wie Janson zu Willen zu sein. Wer weiß, vielleicht sprach der Pfarrer sogar ein paar salbungsvolle Worte, wenn wieder ein kleines Mädchen tot im Hafenbecken lag.
Elisa saß stumm bei Tisch, so zumindest sahen es die anderen Gäste. In Wirklichkeit aber redete sie ununterbrochen in ihrem Inneren mit ihrer neuen Freundin Maja.
Was war mit Gerit Janson? Ob ihr Verehrer, der penetrant nach Alkohol und Tabak stank, tatsächlich in das Etablissement am Hafen ging, so wie Johannes es ihr gegenüber angedeutet hatte?
Ungute Gedanken jagten sich, während Elisa stumm Marie van Weens köstliche Suppe löffelte. Die kalte und leicht scharfe Kreation aus Mangos und dem Poi aus der Taropflanze der Hawaiianer war eine besondere Delikatesse des Hauses. Während die Gäste andächtig auch den letzten Tropfen der Köstlichkeit zu sich nahmen, musterte Elisa im Detail den großen, schweren Körper ihres Gegenübers.
Mit dem typischen Körperbau der Friesen, seinem fast quadratischen Schädel und den klobigen Händen sah Janson aus wie die Hafenarbeiter, die Elisa am Hamburger Hafen oft bei der Arbeit beobachtet hatte. Krasser konnte der Gegensatz zu Keliis eleganter, schlanker Größe gar nicht sein. Mit Schaudern versuchte Elisa sich vorzustellen, wie Janson wohl ohne seinen maßgeschneiderten Anzug aussah.
»Elisa, willst du nicht auch dein Glas auf deine Tante heben?«
Die Augen aller zwanzig Gäste waren erneut auf sie gerichtet, während ihre Mutter nachsichtig lächelte.
»Tut mir leid, aber in diesem Alter … meine Tochter träumt nun einmal gerne.«
Janson grinste breit.
»Junge Frauen sollten träumen … von ihrem zukünftigen Mann, vielen gesunden Söhnen … einem großen Haus und jeder Menge Dienerschaft.«
Elisa hob schnell ihr Glas und prostete Katharina zu.
»Viel Glück und viel Segen auf all Ihren Wegen, verehrte Tante! Mögen die Kinder weiterhin so gut gedeihen, Sie gesund und fröhlich bleiben und Ihr Hibiskus-Komitee weiterhin so viel Gutes in der Gemeinde tun …«
Den letzten Satz konnte Elisa sich nicht verkneifen. Prompt begann Janson, schallend zu lachen.
»Das klang ja schon fast glaubwürdig! Man könnte fast meinen, Sie hätten sich inzwischen unter den Frauen eingelebt. Und wenn Sie die Aufgaben unserer verehrten Frauen respektieren und vielleicht sogar selber eines Tages daran teilnehmen, dann könnten Sie die Politik ja vielleicht von nun an beruhigt den Männern überlassen?«
Elisa vergaß für einen Moment ihre guten Vorsätze. Sie nahm ihn scharf ins Visier, so als würde sie einen Gegner abschätzen.
»Verehrter Herr Janson, ich hatte nie etwas anderes vor! Doch auch um zu den verehrten Damen zu gehören, muss ich mich zunächst als würdig erweisen. Noch bin ich unverheiratet und kinderlos, wie Sie wissen. Meine laienhaften Bemühungen, an politischen Gesprächen teilzunehmen, dienten lediglich dem Lernen. Mein Vater … mein Vater …«
Elisa geriet ins Stocken. Sie realisierte, dass ihr Gesicht über und über rot wurde.
Aber Onkel Paul nickte ihr jetzt ermutigend zu.
»Mein Vater … er hat mit vieles beigebracht. Er hat mir vor allem auch immer gesagt, dass es für uns Frauen nur nützlich sein kann, wenn wir von den Herren der Schöpfung so viel wie möglich lernen. Bildung sei der einzige Weg für uns, um auf Dauer unsere wirtschaftliche Vormachtstellung zu behalten. Und nur eine gebildete Frau wird darauf achten können, dass ihre Söhne und auch ihre Töchter die bestmögliche Schulausbildung erhalten. Daher interessiere ich mich grundsätzlich für alles, eben auch für Politik!«
»Gut gekontert, Elisa!«
Der alte Fried, ohnehin liberaler denkend als die meisten der Anwesenden, prostete Elisa von der Seite zu. Er war ihr Tischherr zur Linken, und sie hatte ihm sichtliches Vergnügen bereitet. Gerit, als Elisas Gegenüber, war allerdings anderer Meinung.
»Hätte unser lieber Gott geplant, dass unsere Frauen sich mit der Politik
Weitere Kostenlose Bücher