Tal der Traeume
zu Hause! Mister Myles zu Hause!« Harriet kam in einer Wolke aus blauem Musselin herbeigelaufen. Ihr glänzendes Haar war im französischen Stil mit Bändern geschmückt und aufgesteckt. Das makellose Gesicht strahlte, die braunen Augen unter den schön geformten Brauen leuchteten, der Mund war zu einem freudigen O geöffnet. Missbilligend stellte Myles fest, dass sie viel hübscher aussah als in seiner Erinnerung. Tom Ling war außer sich. »Ihr Zimmer, Mr. Myles. Kommen sehen. Extra für Sie. Noch nie gesehen…« Sie kam auf ihn zu. »Myles! Ich freue mich, dich zu sehen. Wann bist du angekommen? Es tut mir Leid, ich hätte dich abholen sollen, aber wir kannten den Termin deiner Ankunft nicht. Wie schön, dass du endlich zu Hause bist.« Seine Stiefmutter näherte sich ihm, als wolle sie ihn umarmen oder einen mütterlichen Kuss auf seine Stirn drücken – die Frau, die seinen alten Vater verführt hatte. Entsetzt wandte er sich an Tom Ling: »Wo ist mein Vater?« »Er weg, Mr. Myles. Fischt auf Chinesenboot«, kicherte Tom Ling. »Kommt zurück ein, zwei Tage. Bald. Große Überraschung, was?« Myles nickte. »Gut, du kannst mir mein Zimmer zeigen. Das Gepäck kommt gleich nach.«
Harriet blieb verwirrt stehen und errötete angesichts dieser schroffen Zurückweisung. Sie konnte kaum fassen, dass er sie geschnitten hatte. Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie unterdrückte sie. War er nur wütend, weil sein Vater nicht da war, um ihn zu begrüßen? Oder enttäuscht? Aber William hatte wirklich nichts von seiner Ankunft gewusst. Es ergab keinen Sinn. Sie hörte die Stimmen aus Myles’ Zimmer und war beinahe eifersüchtig auf Tom, weil er ihn nun herumführte und nicht sie. William hatte zwei große Zimmer für Myles und Pop reserviert. Er war sehr stolz darauf und hatte die Räume im Hinblick auf ihre Bedürfnisse eingerichtet. Tom Ling hatte sie immer lüften müssen. Harriet selbst hatte dafür gesorgt, dass seine Bücher, Kleider und übrigen Besitztümer gepflegt wurden, so dass bei Myles’ Heimkehr alles bereit war. Da sie nicht wusste, was sie mit sich anfangen sollte, ging sie ins Wohnzimmer und griff nach einer Zeitung. Vielleicht wünschte Myles ja einen Morgentee, und so schlich sie auf Zehenspitzen in die Küche, als könne sie sonst die Ruhe des Hauses stören. Nun drang auch Billy Chinns aufgeregte Stimme aus dem Schlafzimmer. Sie seufzte, fühlte sich unglücklich und ausgeschlossen. Daher bezog sie wieder Stellung im Wohnzimmer und unternahm den Versuch, sich auf eine Zeitung aus Perth zu konzentrieren, die schon eine Woche alt war. Myles sah reifer aus, so als habe er die kindlichen Schichten seiner Persönlichkeit abgestreift. Auch seine Stimme klang voller. Sie versuchte, ihn durch die Wand zu belauschen, als er nun mit den Dienstboten im Speisezimmer sprach. Er klang plötzlich so englisch! »Verdammt«, murmelte sie, »für wen hält er sich?« Das war eine gute Frage. Wie konnte er es wagen, in ihr Heim einzudringen und sie zu behandeln, als sei sie gar nicht da? Enttäuschung oder nicht, es gab keinen Grund für ein derartiges Verhalten. Sie spielte mit dem Gedanken, ihn geradeheraus zu fragen, ob es neuerdings zum guten Ton gehöre, die Frau seines Vaters zu ignorieren? Aber ihr fielen nicht die richtigen Worte ein, außerdem würde er vielleicht doch noch hereinkommen und sich entschuldigen. Sie wartete. Hörte das Klappern eines Teetabletts, fröhliche Stimmen, dann traf das Gepäck ein, der Kuli plapperte, der Handkarren fuhr quietschend zur Seitentür des Hauses, und Tom Ling erteilte Befehle. Harriet konnte ihren Gast sehen, wie er gemütlich im Speisezimmer saß, Tee trank und Kekse knabberte, während Tom Ling die Sachen auspackte.
Das Haus war unheimlich still. Und heiß, stickig, der Schweiß rann an ihr herunter. Hoffentlich fand er es nach dem kalten englischen Klima richtig ungemütlich, dachte sie. Warum war William ausgerechnet jetzt auf dieser Angeltour? Warum konnte er nicht hier sein und die Situation bereinigen? Seinen überheblichen Sohn zur Ordnung rufen? Doch dann mahnte sie sich zur Vorsicht. Vielleicht reagierte sie übertrieben. Wenn er nun im Speisezimmer saß und auf sie wartete? Außerdem liebte William seinen Sohn wie seinen Augapfel. Der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass sie Ärger um jeden Preis vermeiden musste. Nachdem sie diese Entscheidung getroffen hatte, stand Harriet auf, prüfte ihr Aussehen im Spiegel und wischte sich die
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